Fotografie

30. November 2021 - 12:08

© Aleksey Myakishev

 

Und wieder ein Hund in der Nacht! Nach Rom und Georgien jetzt also Russland.

Das Foto bildet eine Ausnahme im monochromen Schwarz-Weiß des russischen Fotografen und Fotojournalisten Aleksey Myakishev: Es ist ein Farbfoto!

Ich habe mich durch Hunderte seiner Schwarz-Weiß-Fotos über Gebiete im nördlichen Russland geklickt. Assoziationen und Gefühle, die beim Betrachten kommen sind Kälte, Winter, Armut, weite Landschaft, dünne Besiedlung, Einsamkeit, aber auch eine gewisse Zeitlosigkeit. Die Fotos scheinen aus der Zeit gefallen: Nichts Modernes stört das Gleichgewicht zwischen Mensch und Umwelt. Myakishev will zeigen, dass das Leben im russischen Dorf in Harmonie zur Natur erfolgt.

Seine teilweise sehr umfangreichen und über einen langen Zeitraum entstandenen Serien sind wie epische Gedichte über die Regionen, Chroniken des bäuerlichen Lebens. In Vyatka fängt Aleksey Myakishev zwei Jahrzehnte (1993-2003) die einfachen Momente des Alltags ein. Aus jedem Foto spricht die Nähe und Verbundenheit zu den Menschen, erkennt man, dass die Sicht des Fotografen von Liebe für die Menschen durchdrungen ist. Die Langfristigkeit des Projekts bedingt es, dass der Fotograf mitfühlender Teil der Welt wird, die er visuell beschreibt.

 

Vyatka © Aleksey Myakishev

Vyatka © Aleksey Myakishev

© Aleksey Myakishev

© Aleksey Myakishev

 

Am Ufer eines Sees liegt das kleine Dorf Kolodozero, eingebettet zwischen Karelien und der Oblast Archangelsk im Nordwesten Russlands (eine Oblast ist eine Föderationseinheit ausgestattet mit einer administrativen Autonomie). Die Einwohner leben vom Holzfällen, Fischen, Jagen, der landwirtschaftlichen Selbstversorgung und dem Sammeln von Metallschrott, der vor Ort verkauft wird. "Das Leben in Kolodozero ist nichts für Zartbesaitete", schreibt Myakishev, doch auch, dass der Ort etwas Besonderes ist.

Was bedeutet es, Jahreszeiten zu spüren? Den Geruch von Schnee, Wasser und Gras wahrzunehmen; in Kolodozero atmet die Natur, es ist ein Ort, "an dem die Seele singt". Zu jeder Jahreszeit kehrt der Fortograf zurück. Die Fotoserie entstand zwischen 2011 und 2015.

 

Das Plätschern des Wassers, das Rascheln der Grashalme und der Wind bewegen mich so, dass ich das Gefühl der Freude in mir kaum unterdrücken kann. Und dann, in einem Wimpernschlag, wird mir klar, dass ich zu Hause bin, und ich fühle, dass ich verstehe, woher ich komme. (Aleksey Myakishev)

 

Aleksey Myakishev bewundert die Natur an diesen Orten im russischen Nordwesten. Ihre Stille, Schönheit und Erhabenheit inspirieren ihn.

 

Nach mehreren Jahren der Wanderschaft (...) habe ich verstanden, dass ich eine erstaunliche, unberührte Welt der rätselhaften russischen Seele berührt habe. (Aleksey Myakishev)

 

Koldozero © Aleksey Myakishev

Koldozero © Aleksey Myakishev

Koldozero © Aleksey Myakishev

 

Was auf seinen poetischen, stillen, schwermütigen, aber ausdrucksstarken Aufnahmen als Melancholie erscheint, beruht nicht auf einer Sehnsucht nach der UdSSR, sondern viel mehr auf dem Studium seiner Vorbilder, das der Autodidakt während der UdSSR in der Stadtbibliothek vorgenommen hat. Er erlernte die Fotografie durch das Durchforsten von Büchern über bildende Künstler wie Edgar Degas und Matisse, die er damals für erstaunlich fotografische Künstler hielt. Auch Sergei Lobowikow, ein russischer Fotograf des frühen 20. Jahrhunderts, hat ihn stark beeinflusst, aber auch Henri Cartier-Bresson und Robert Frank waren ihm bekannt. Von ihnen inspiriert entwickelte er einen Stil, der die Tradition des entscheidenden Augenblicks fortsetzte und sie mit einem tiefen Einfühlungsvermögen für seine Motive verband.

 

Kyrgyzstan © Aleksey Myakishev

Sakhalin © Aleksey Myakishev

Sakhalin © Aleksey Myakishev

Sakhalin © Aleksey Myakishev

Sakhalin © Aleksey Myakishev

Sakhalin © Aleksey Myakishev

 

Schon 1985 begann Aleksey mit dem für ihn erschwinglichen Schwarz-Weiß-Film zu arbeiten, der ihn die Magie der Fotografie spüren ließ: Die Magie, die sich in der Unvorhersehbarkeit des Ergebnisses auf Film niederschlägt, sowie die Magie beim Prozess des Entwickelns.

ihn interessante, inspirierende Region, dort improvisiert er, verlässt er sich auf sein Glück und seine Intuition. 30-40 Filme pro Aufenthalt entstehen, meditative Routine (entwickeln, scannen, drucken ...) folgt, das Material muss den Test der Zeit bestehen. Aus manchen Serien wird ein Buch, ein taktiles Ergebnis jahrelanger harter Arbeit.

Aleksey Myakishev (*1971 in Kirov/Vyatka/UdSSR) arbeitet seit 1991 als professioneller Fotojournalist. Im Jahr 1999 zog er nach Moskau und wurde freiberuflicher Fotograf. Seine Arbeiten wurden in Zeitschriften in Russland und Finnland veröffentlicht und hängen in zahlreichen Privatsammlungen. Er präsentiert seine Fotos in Einzelausstellungen in Russland und Europa.

Er gehört einer humanistischen Fotografie an, die sich dem Menschen in seinem täglichen Leben und Umfeld und mit all seinen Emotionen widmet, und ohne Inszenierung und Künstlichkeit auskommt. Die Themen sind mannigfaltig, aber die Frage bleibt: Was macht uns menschlich, was ist der gemeinsame Nenner der Menschlichkeit?

 

Solovki © Aleksey Myakishev

Solovki © Aleksey Myakishev

 

Das untere Bild muss ich Ihnen einfach zeigen! Es schaut aus, als wäre Erwin Wurm in Russlands Norden vorbeigekommen.

 

© Aleksey Myakishev

 

Quellen: leica, inframe, Photographic Encounters Friends of the Albert-Kahn Museum

alle Fotos © Aleksey Myakishev

 

Fotografie
27. Juni 2021 - 9:54

Together again, 2017 © Hayden Fowler

 

Sein Interesse an der Abkehr der Menschheit von der Natur begleitet den neuseeländischen Künstler Hayden Fowler seit seiner Kindheit. Der Wunsch, die Auswirkungen dieser Entfremdung zu erforschen, hat ihn für sein Studium und seine künstlerische Praxis motiviert. Hayden Fowler begann sein Studium der Biologie, Ökologie und Verhaltensforschung in seiner neuseeländischen Heimat, bevor er nach Sydney zur University of New South Wales Art & Design ging. In den folgenden sechs Jahren absolvierte er ein Studium der bildenden Kunst und begann, sich in der Kunstszene von Sydney zu etablieren. Er nutzt dabei seinen wissenschaftlichen Hintergrund für die Entwicklung seiner künstlerischen Projekte.

2018 absolvierte Hayden Fowler einen einjährigen Aufenthalt im Künstlerhaus Bethanien in Berlin, das sich der Förderung der zeitgenössischen bildenden Kunst widmet.

In seinen komplexen Installationen greift Fowler Ideen aus Biologie, Verhaltens- und Zukunftsforschung auf und schafft Versuchsanordnungen, die von Verlust, Hoffnung und der komplizierten, immer neu zu hinterfragenden Beziehung zwischen Mensch und Natur erzählen. Besonders geht er der Frage nach den kulturellen, spirituellen emotionalen und psychischen Auswirkungen des Artensterbens nach und erforscht, wie Umweltzerstörung ein Ausdruck des Verlusts unserer Beziehung zur Natur ist. Er setzt die Zerstörung der Umwelt mit der Degradierung der Kultur und der Denaturierung der Menschheit in Beziehung. Seine Arbeit und Forschung thematisiert die historischen Einflüsse, die dazu geführt haben ebenso, wie sie einen fiktiven Ausblick auf die Zukunft wagt.

Seine Praxis konzentriert sich auf die Schaffung detaillierter Sets und Dioramen, die Szenen von unberührten futuristischen Innenräumen bis hin zu postapokalyptischen Landschaften darstellen. In diesen aufwändigen Sets choreografiert er menschliche und tierische Subjekte. Methodisch verknüpft er innerhalb dieser fiktiven Räume verschiedene Medien, von Fotografie über Video bis hin zu Performance und Skulptur.

Zurzeit ist er mit einer Arbeit bei der Ausstellung "Ruhr Ding: Klima" vertreten. Ziel ist es, den durch theoretische, wissenschaftliche und journalistische Debatten geprägten Klimadiskurs, um künstlerische Sichtweisen zu ergänzen und zu erweitern. Auf dem Gelände der stillgelegten Zeche General Blumenthal in Recklinghausen legt Fowler eine künstliche Landschaft an. In einer geodätischen Kuppel - einem Gewölbe aus einer Vielzahl aneinandergefügter Dreiecke - sollen Pflanzenarten, die in der durch Schwerindustrie gezeichneten Region bereits ausgestorben sind, zu neuem Leben erwachen.

National und international bekannt wurde Hayden 2007 mit der Arbeit "Call of the Wild" bei der er sich ein Paar ausgestorbener Huia-Vögel über die gesamte Fläche seines Rückens tätowieren ließ. Bereits bei dieser Arbeit verschmolz seine Sorge über das zunehmende Aussterben von Pflanzen und Tieren mit seinem Bewusstsein für die Kraft der Performance-Kunst.

"Together Again" (2017) ist eine Virtual-Reality-Landschaftsinstallation und Live-Performance, die erstmals bei Performance Contemporary im Rahmen von Sydney Contemporary 2017, Carriageworks, Sydney, gezeigt wurde.

Die Beziehung zwischen Fowler und einem australischen Dingo wird nicht in seinem natürlichen Habitat, sondern im Kunstkontext gezeigt und erforscht.

 

 

Together again, 2017 © Hayden Fowler

 

Der Dingo (Canis lupus dingo) ist ein Haushund, der schon vor Jahrtausenden verwilderte und heute in vielen Teilen seines Verbreitungsgebietes, vor allem in Australien, vom Menschen völlig unabhängig lebt. Er ist eine einzigartige Spezies mit einer bedeutenden Geschichte und einem bedeutenden Platz innerhalb des australischen Imaginären.

 

Together again, 2017 © Hayden Fowler

 

Der Dingo und der Künstler besetzen während der vierstündigen Performance gemeinsam einen großen Käfig. Eine Virtual-Reality-Brille lässt Fowler in eine idyllische australische Landschaft eintauchen, während die Bewegungen des Dingos, der mit einem VR-Tracker ausgestattet ist, in die VR-Installation übertragen werden. So können Tier und Mensch in dieser digitalen Neuinterpretation der "Wildnis" "koexistieren".

 

Together again, 2017 © Hayden Fowler

 

Der Titel "Together Again“ täuscht über die Trennung zwischen der virtuellen Welt (eine generisch schöne australische Outback-Landschaft) und der physischen Realität des Raums der Ausstellung und der Performance hinweg. Während der Dingo, der einen VR-Tracker trägt, und der Mensch, der eine VR-Brille trägt, den Käfig physisch durchstreifen, werden ihre Bewegungen direkt in der virtuellen Welt abgebildet.

 

Together again, 2017 © Hayden Fowler

 

The project has developed out of my ongoing concern with the accelerating process of extinction and the relationship between environmental loss and the depletion of human culture and qualitative experience. In particular, the project explores desires for reunion with nature, in the face of the looming impossibilities of this in a near-future world. Research in the development of the project explores indigenous world views, animism, biophilia and the ‘indigenous mind’ (a trait argued to be innate to all humans, instinctively desiring a communal relationship with the rest of nature) as counters to dominant Western thinking.(Hayden Fowler, 2017)

"Das Projekt hat sich aus meiner anhaltenden Beschäftigung mit dem sich beschleunigenden Prozess des Aussterbens und der Beziehung zwischen dem Verlust der Umwelt und der Verarmung der menschlichen Kultur und qualitativen Erfahrung entwickelt. Insbesondere erforscht das Projekt die Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung mit der Natur angesichts der sich abzeichnenden Unmöglichkeit einer solchen in einer Welt der nahen Zukunft. Die Forschung während der Entwicklung des Projekts erkundet indigene Weltanschauungen, Animismus, Biophilie und den 'indigenen Geist' (eine Eigenschaft, von der behauptet wird, dass sie allen Menschen angeboren ist, die instinktiv eine gemeinschaftliche Beziehung mit dem Rest der Natur anstreben) als Gegenpol zum dominanten westlichen Denken." (Hayden Fowler, 2017)

 

(Die Biophilie ist nach Erich Fromm die leidenschaftliche Liebe zum Leben und allem Lebendigen. Edward O. Wilson definiert die Biophilie als "the innate tendency to focus on life and lifelike processes" (vgl. Wikipedia). Seine Idee wird auch zum Ausgangspunkt umweltethischer Überlegungen wie der Conservation Ethic, nach der das Leben und die Artenvielfalt bewahrt und geschützt werden sollte. Ich nehme an, dass sich Hayden Fowler darauf bezieht.

Über seine Motivation zu "Together Again" sagt der Künstler, dass sich die Welt mit einem drohenden Tod des Alten konfrontiert sehe, sowohl in der menschlichen Kultur als auch in der Umwelt, wo die verzögerten Effekte der Moderne und die Beschleunigung der technologischen Industrialisierung zum Tragen kämen. Wir befänden uns an einem kritischen Kipppunkt der Auslöschung und des Verlustes unserer uralten Beziehungen und unserer physischen Erfahrung der Natur und insbesondere der Wildnis.

 

Together again, 2017 © Hayden Fowler

Together again, 2017 © Hayden Fowler

Together again, 2017 © Hayden Fowler

 

Fowlers Projekt wurde im März 2018 in der Zeitschrift Artlink vorgestellt. Im Editorial der Ausgabe stellt die Chefredakteurin Eve Sullivan einen Zusammenhang der Arbeit zu Barbara Creeds „Stray: Human-Animal Ethics in the Anthropocene“ her. Creed, die für ihren Beitrag zur Filmwissenschaft und zum feministischen Denken im Allgemeinen bekannt ist, hat in den letzten Jahren hat ihre Aufmerksamkeit auf das Leben nicht-menschlicher Tiere gerichtet und auf die vielfältigen Möglichkeiten, wie Menschen mit ihren nicht-menschlichen Verwandten umgehen, sie unterdrücken und von ihnen lernen können. Sie fordert gegenseitigen Respekt und Empathie, die darauf basieren, mit und nicht nur auf Tiere zu schauen.

In diesem Sinn kann man Fowlers Arbeit als künstlerische Übersetzung ihrer "Streuner-Ethik" - die Co-Abhängigkeit zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Tieren in Zeiten der Bedrohung und Verlassenheit - bezeichnen.

Wahrscheinlich ist Ihnen auch sofort Joseph Beuys und der Kojote eingefallen. Da heuer Beuys 100. Geburtstag wäre, ist sein Werk auch in vielen Ausstellungen gegenwärtig. Auch Susan Ballard geht bei ihrer Beschreibung von Fowlers Performence kurz auf Beuys ein. Ich folge den Ausführungen ihres Aufsatzes "Heading for trouble: Non-human futures in recent art".

Inmitten des Lärms und des Verkehrs einer Kunstmesse gibt es in diesem abgeschlossenen Raum bei Sydney Contemporary eine einzige, weich gepolsterte Plattform, auf der sich Mensch und Dingo gemeinsam aufhalten. Trotz und vielleicht gerade wegen der räumlichen Beschränkungen stehen der Künstler und das Tier eindeutig in einer Beziehung der Intimität. Joseph Beuys' kämpferisches Einsperren von Mensch und Kojote in einem Galerieraum für die Aktion "I Like America and America Likes Me" (1974) wird hier durch eine Beziehung des scheinbaren gegenseitigen Nutzens ersetzt, die durch sanfte Berührung und langsame Bewegung definiert ist. Der Käfig erscheint trostlos, aber die virtuelle Welt ist erfüllt von Farbe, Licht und der scheinbaren Pracht der Natur, die durch Dingoaugen imaginiert wird. Doch auch die Grenzen dieser Welt sind offensichtlich; nachdem immer wieder dieselben drei Kakadus vorbeifliegen, flacht das visionäre Erlebnis ab. Fowler befindet sich innerhalb dieses Endspiels der Natur, die durch die flachen Ebenen der Wiederholung als ausgedünnte, künstlich destillierte Erfahrung abgebildet wird. Der reduzierten Erfahrung wird der restaurative Trost der Mensch-Dingo-Beziehung mit artübergreifender Kommunikation entgegengesetzt, der den Weg nach vorne weist.

 

 

Together again, 2017 © Hayden Fowler

Together again, 2017 © Hayden Fowler

 

 

 

Diese Arbeit wurde im Garage Museum in Moskau mit einer russischen Landschaft und einem europäischen Wolf wiederholt. Die Zuschauer konnten das VR-Erlebnis über einen Monitor verfolgen, der Fowlers Live-Ansicht übertrug.

 

Together again, 2019 © Hayden Fowler

Together again, 2019 © Hayden Fowler

Together again, 2019 © Hayden Fowler

Together again, 2019 © Hayden Fowler

Together again, 2019 © Hayden Fowler

Together again, 2019 © Hayden Fowler

 

Auch mit  "Captive born" (2020) zeigt der Künstler eine poetische, ritualbasierte Performance, die die Zukunft neu imaginiert und modelliert und versucht historische und systemische Machtstrukturen aufzudecken und aufzubrechen. Bereits der Titel zeigt die Herrschaft des Menschen über das Tier, in Gefangenschaft geboren und zumeist gestorben.
 

 

Captive born, 2020 © Hayden Fowler

 

Ein australischer Dingo - als Exponent einer immer noch erinnerten Wildnis - ist in einem antiquierten Zoo-Gehege eingesperrt. Das Gehege verweist auf die jüngere Geschichte menschlicher Herrschaft und Expansion, symbolisiert durch botanische und zoologische Sammlungen, die verblasste Überbleibsel der Aufklärung sind. Isoliert in seinem konkreten Lebensraum, kommuniziert der Blick des Tieres einen Widerstand gegen die Unterwerfung.

 

Hayden Fowler (*1973 in Te Awamutu/ Neuseeland) lebt in Berlin und Sydney.

 

20. Juni 2021 - 9:43

Kennen Sie Google Poetics? Ich musste danach googeln. Google Poetics entsteht, wenn Suchanfragen von google automatisch ergänzt werden. Der Algorithmus erschafft sozusagen Poesie.

Der Titel der Serie  "Sit Silently" der lettischen Fotografin Katrina Kepule geht auf die Internet-Suche zu "sitzen" zurück und ist die kürzeste Ergänzung, die mit "sitzen" assoziiert wird: "Sit silently /sit silently doing nothing / we sit silently and watch the world / we sit silently and watch".

Katrina Kepule beschreibt sich selbst als introvertierten Menschen, der zu Fernweh neigt und viel Zeit sitzend, beobachtend und analysierend verbringt. In ihr klang die Phrase "Sit Silently“ nach und sie machte sie zur Grundlage ihres Foto-Projekts, das zwischen 2013 und 2015 entstand.

 

Sit Silently © Katrina Kepule

 

Die Foto-Serie stellt die Stille als einen positiven Zustand der Kontemplation, der introvertierten Ruhe und der der unprätentiösen Feier des Lebens dar. Aber die Stille hat auch negative Konnotationen, wenn das Schweigen als Manifestation einer Resignation auftaucht, die durch innere Konflikte ausgelöst wird, wie sie für die Menschen im ländlichen postsowjetischen Lettland häufig sind.

 

Sit Silently © Katrina Kepule

 

Während Tamás Hajdu im letzten Blogbeitrag das kleinstädtische Leben in Rumänien fotografisch dokumentiert, untersucht Kepule die alltäglichen Riten der Subkulturen im zeitgenössischen Lettland rund um Riga. Auch sie fängt Orte ein, wo europäische und sowjetische Einflüsse nebeneinander existieren, Orte, in denen sich in den Innen- und Außenräumen die alte und neue Zeit ergänzen.

Die Fotografin begibt sich mit einem konzeptionellen Blick auf eine Suche nach ihrer lettischen Identität in der Peripherie mit ihren langsamen Routinen und Momenten, mit ihren spezifischen Werten und Bedeutungen jenseits der urbanen Strukturen.

Kepule wählt die Dokumentarfotografie, um das Gewöhnliche in Form einer geheimnisvollen fiktiven Fotoerzählung zu vermitteln. (Ich habe lediglich die wesentlichen Teile der Geschichte - die Hunde - rausgepickt).

 

Sit Silently © Katrina Kepule

 

Sie beschreibt ihre Methode als "subjektive Dokumentation" - eine intuitive Arbeitsweise, die Subjektivität und Relativität in die Dokumentarfotografie einbringt. Mit ihrer intuitiven bzw. naiven Herangehensweise kommt sie zu Ergebnissen, die zu filmisch und poetisch wirken, als dass sie rein abbildend wirken.

Kepule sieht sich auch nicht nur von lokalen lettischen Dokumentaristen und den Magnum-Fotografen beeinflusst, sondern nennt auch Filmemacher wie Wim Wenders, David Lynch, Lars von Trier und Andrey Tarkovsky als Inspirationsquellen.

 

Sit Silently © Katrina Kepule

Sit Silently © Katrina Kepule

 

Oben sehen Sie mein absolutes Lieblingsfoto von Katrina Kepule: Es fällt mir schwer, diesen Hund als Hund zu betrachten und nicht als Mensch, so menschlich ist seine Pose und sein Ausdruck. Ist er ein sehnsuchtsvoller Romantiker, der den Mond betrachtet? Ist er ein kontrollierender Biedermeier, der seine "Mitmenschen" beobachtet?

 

Sit Silently © Katrina Kepule

 

Katrina Kepule (*1981 in Lettland) hat den Bachelor of Arts in Audio- und visueller Kultur und Theorie an der Lettischen Kulturakademie in Riga erworben und viele professionelle Fotografie- und Meisterkurse absolviert. Weiters arbeitete sie als Fotoreporterin in der Kanzlei des lettischen Parlaments.

 

alle Fotos © Katrina Kepule

Fotografie
13. Juni 2021 - 9:05

Half, 2012 © Tamás Hajdu

 

Dieses Foto ist Programm. Es enthält alles, was den rumänischen künstlerischen Foto-Dokumentarist und Veterinär Tamás Hajdu ausmacht: Es erzählt eine Geschichte (von alt-neu, arm-reich, Kommunismus-Kapitalismus, Umwelt-Tier), ist vermutlich ein Schnappschuss, wirkt aber wohlkomponiert und hat in Verbindung mit dem Titel "half" eine gehörige Portion Humor. Nur ein Teil der Bewohner der Siedlung konnte die Kosten für eine Renovierung aufbringen, weshalb die Fassade nur halb fertiggestellt wurde.

Hajdu möchte, dass die Betrachter einen humorvollen "Aha"-Moment erleben und die Botschaft entschlüsseln, die in seinen Fotos versteckt ist. Jedes von ihnen kann aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden und jeder Blickwinkel erzählt seine eigene Geschichte. "Half" gehört zu einer Serie in der Tamás Hajdu den Alltag in seiner Heimatstadt fotografiert hat.

Seine Fotos zeigen die humorvoll-absurden, ironischen, aber auch tragischen Lebensumstände und Begebenheiten in seiner Nachbarschaft, den Parks, Garagen, Friedhöfen und Flohmärkten.

 

o.T., 2017 © Tamás Hajdu

 

Auf den ersten Blick mag die Serie wie eine lose Sammlung von Schnappschüssen erscheinen. Bei längerer Betrachtung wird jedoch klar, dass Hajdus Projekt neben dem Einfangen des "entscheidenden Moments" und einer starken Komposition auch verborgene Wahrheiten über das Alltagsleben in Baia Mare und anderen Teilen des ländlichen und kleinstädtischen Osteuropas offenbart.

Es erzählt inhaltlich von absurden Gegensätzen: von alten Gewohnheiten und einer Laissez-faire-Haltung, die zu Verfall und Verwahrlosung führt, aber auch von Aufbrüchen zu Neuem und der Bereitschaft zur Veränderung.

Baia Mare - und hunderte andere Kleinstädte, die über ganz Rumänien und darüber hinaus verstreut sind - haben sich in diesem eigenartigen Netz aus Vergangenheit und Zukunft verheddert. Die Einheimischen stehen immer noch zu ihren Traditionen und halten an den alten Gepflogenheiten fest. Gleichzeitig jedoch unterliegt ihr Alltag und ihre Nachbarschaft großen Umwälzungen.

Manchmal scheint Optimismus aufkommen: Die Wände sind in lebhaften Farben gestrichen, die Graffiti-Botschaften sind immer originell und humorvoll und die sehr alten Autos werden auf geheimnisvolle Weise wiederbelebt.

 

o.T., 2017 © Tamás Hajdu

o.T., 2015 © Tamás Hajdu

o.T., 2017 © Tamás Hajdu

 

Das allgemeine Gefühl der Stille, das die isolierten Hunde in seinen Bildern umgibt, kommt auch von dem sorgfältig gewählten Hintergrund. Die Farben vervollständigen seine Bilder entweder durch ihre spezifische Botschaft oder dadurch, dass sie bewusst ein Gefühl der Aktualität hervorrufen.

 

o.T. © Tamás Hajdu

o.T., 2018 © Tamás Hajdu

o.T. © Tamás Hajdu

o.T., 2013 © Tamás Hajdu

o.T., 2018 © Tamás Hajdu

o.T., 2012 © Tamás Hajdu

o.T. © Tamás Hajdu

The postman rings just once, 2010 © Tamás Hajdu

o.T., 2018 © Tamás Hajdu

 

Er stellt den Alltag in einer ausgewogenen Mischung aus intelligentem Humor, Realitätssinn, Mitgefühl und Traurigkeit dar. Tamás nennt sich selbst Fine Art Documentarist. Er dokumentiert, achtet aber auch auf Details, Komposition, Licht und Hintergrund. Derart erreicht er reizvolle Gegenüberstellungen und visuell auffällige Kompositionen mit formaler Strenge, die ihn davor bewahrt ins Romantisierende, Triviale, Kitschig-Sentimentale abzugleiten.

 

o.T., 2018 © Tamás Hajdu

 

Die Städte und Dörfer sind in graue Melancholie getaucht, aber sie haben auch ihre heiteren Momente, die Tamás mit bewundernswerter Leichtigkeit, Verschrobenheit und Humor einfängt.

 

o.T. © Tamás Hajdu

 

Oft untergräbt ein humorvolles Foto das Thema oder das Medium selbst und lässt das Bild wie einen Trick für billige Lacher wirken. Aber es kann eine enorme Wirkung haben, wenn die Komposition, der Moment und die Umgebung genau richtig zusammenpassen und der Fotograf klug genug ist, um zu wissen, wann und wie er den Auslöser drücken muss.

 

o.T., 2018 © Tamás Hajdu

 

Tamás Hajdu ist ein subtiler und nachdenklicher Geschichtenerzähler über das urbane und rurale Leben im ehemaligen Ostblock, das heutzutage - im andauernden Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus - immer noch desorientiert aussieht. Für Hajdu entwickelt sich dieser Übergang - sowohl visuell als auch sozioökonomisch - in eine chaotische Richtung.

Die Schwarz-Weiß-Fotografien gehören zur Serie The Patient files: At the Vet

 

o.T. © Tamás Hajdu

Beastie Boy © Tamás Hajdu

Call of Duty © Tamás Hajdu

OG © Tamás Hajdu

o.T. © Tamás Hajdu

Incognito © Tamás Hajdu

 

Das Bild der osteuropäischen Hinterhöfe und Garagen ist meist unordentlich. Das sind die Orte, wo streunende Hunde leise wie Geister (unten "Ghost" ) im nebligen Morgen spazieren gehen.

 

Ghost © Tamás Hajdu

o.T., 2016 © Tamás Hajdu

Jump © Tamás Hajdu

o.T., 2018 © Tamás Hajdu

o.T., 2016 © Tamás Hajdu

o.T., 2017 © Tamás Hajdu

o.T., 2011 © Tamás Hajdu

 

Tamás Hajdu kommt aus einer künstlerischen Familie und entdeckt 2005 die Fotografie für sich, die er ernsthaft, aber ohne formale Ausbildung betreibt. Als Tierarzt, der in einem diagnostischen Labor arbeitet, geht er auf die Beziehung zwischen den Menschen und den Tieren der Stadt ein. Mit Liebe und Leidenschaft  fotografiert er die zufälligen Begegnungen mit streunenden Hunden. Humor spiegelt sich in den Bildern selbst und sogar in ihren Bildtiteln wider.

Aufgrund des rumänischen sozialen und wirtschaftlichen Kontextes sieht man viele Streuner auf den Straßen und Gassen zwischen den Wohnhäusern. Effiziente staatliche Tierheime oder Kastrationsprojekte gibt es kaum. Orientierungslos laufen die Hunde wie Geister durch den schmutzigen Schnee.

Auf seinem Blog finden Sie unzählige Fotos des rumänischen kleinstädtischen Alltags (und auf Instagram den Alltag seines Dackels). Ich habe mich auf Fotos mit Hunden beschränkt, wobei mir die Auswahl sehr schwer gefallen ist. Einen kleinen Schwerpunkt habe ich auf die streunenden Hunde im Winter gelegt, die mich besonders bewegen.

Wurde der "einsame Baum" von C. D. Friedrich für die Nachfahren der Romantiker zum Topos, so ist es für mich der verlassene einsame Straßenhund, der mir in der zeitgenössischen Fotografie immer wieder begegnet.

“I share my heart with you”, möchte ich jedem einzelnen zurufen.

 

o.T., 2016 © Tamás Hajdu

I share my heart with you, 2016 © Tamás Hajdu

o.T., 2020 © Tamás Hajdu

 

Hajdu Tamás (*1976 in Simleu Silvaniei/Rumänien) stellt national und international aus. Seine Arbeiten werden in einer Reihe von Fotomagazinen und Publikationen vorgestellt, darunter Punctum, Practical Photography, Vice, Lenscratch, Feature Shoot, The Independent, La Repubblica und The Guardian.

Alle Fotos © Tamás Hajdu

 

Fotografie
4. April 2021 - 14:16

Der japanische Fotograf Yamamoto Masao gruppiert seine Arbeiten in Serien - A Box of Ku, Nakazora, Kawa=Flow, Shizuka=Cleanse, Small Things in Silence, Tori (Vogel) -, die aber keine Projekte mit klaren Anfängen und Enden darstellen. Jede Fotografie ist als (flexibler, variabler) Teil eines größeren Zusammenhangs, aber auch als isolierter Ausschnitt gültig.

Die Fotos der einzelnen Serien bilden keine chronologische Geschichte, sondern die Erzählung wird durch die Art der Präsentation vom Künstler erzeugt. Dabei können die Installationen und Geschichten immer andere sein, je nachdem wo und in welchem Kontext Yamamoto ausstellt. Yamamoto arrangiert seine kleinen ungerahmten Fotografien an den Ausstellungswänden, wählt eine intuitiv als Ausgangspunkt aus und entwickelt daraus eine Geschichte in Bildern. Aus der Ferne betrachtet bilden diese Arrangements einen Fluss, einen Flow um den Ausstellungsraum.

 

I construct a story by hanging several small photos. I don’t do it chronologically. Sometimes I start with the end, sometimes with the middle, I never know where I will start. I attach one, then another, and then a third. Even I have no idea of the story it tells before I start hanging. It’s only in the theoretic hanging that the sense appears to me. (Yamamoto Masao zit.n. LensCulture)

 

Nakazora Installationsansicht, 2002 © Craig Krull Gallery

Installationsansicht, 2006 © Mizuma Art Gallery

 

Die Möglichkeiten zu ordnen und zu arrangieren sind grenzenlos, da jede leichte Verschiebung die Poesie dieser "visuellen Haikus" ändert. Doch nicht nur Yamamoto kann unendlich viele Kombinationen finden, auch der Ausstellungsbesucher, der die Fotoinstallation abschreitet, folgt seinen eigenen Assoziationen. Tausende individuelle Erzählungen entstehen auf diese Weise.

Jede Serie hat also ihre Installationen, ihre Publikationen und ihren sich entwickelnden Katalog mit nummerierten Drucken. Der Künstler gibt seinen Fotografien selten Titel. Die meisten sind bloß zu Identifikationszwecken nummeriert.

 

A Box of Ku #0214, 1993 © Masao Yamamoto

 

Jeder der Silbergelatineabzüge der Serien "A Box of Ku" und "Nakazora" ist etwas Einzigartiges und Kostbares in Bezug auf seine Größe, individuelle Verarbeitung, Tonung und Abnutzung:

Yamamoto gibt seinen Abzügen ein altes Aussehen, verleiht ihnen künstliche Patina, indem er sie mit Tee beträufelt, sie mit seinen Tränen verschmiert, sie zart koloriert oder auf ihnen malt. Er trägt sie mit sich herum, reibt sie in seinen Händen und schiebt sie in seine Taschen, bis sie zerknittert, eselsohrig, zerkratzt, zerrissen und abgenutzt aussehen. All diese manuellen Prozesse tragen nicht nur dazu bei nuancierte fotografische Objekte zu erschaffen, sondern auch die Grenze zwischen Malerei und Fotografie auf- und die Fotografie aus dem Kontext der Serienproduktion herauszulösen. Das Sichtbar-Machen seiner individuellen Handschrift durch den vermeintlichen Altersprozess erleichtert die Auseinandersetzung mit der Fotografie als taktilem Medium und die Rahmenlosigkeit verringert ebenso die räumliche Distanz und erhöht den emotionalen Zugang für die Betrachterin.

Doch noch etwas anderes will Masao Yamamoto mit dem Alterungsprozess erreichen: Wir sollen die Beziehungen zwischen Fotografie und Erinnerung neu untersuchen.

 

As you can see, my photos are small and seem old. In fact, I work so that they’re like that. I could wait 30 years before using them, but that’s impossible. So, I must age them. I take them out with me on walks, I rub them with my hands, this is what gives me my desired expression. This is called the process of forgetting or the production of memory. Because in old photos the memories are completely manipulated and it’s this that interests me and this is the reason that I do this work. (Yamamoto Masao zit.n. LensCulture)

 

Ich bin mir nicht sicher, was Yamamoto meint: Prozess des Vergessens oder die Produktion von Erinnerung? Wir alle vergessen so viel! Es macht mich sprachlos traurig, wie viel ich von meinen verstorbenen Hunden schon vergessen habe. Konserviert ein Foto die Erinnerung, die ich habe oder ersetzt es die Erinnerung, die ich nicht mehr habe? Erinnern wir uns womöglich nicht "richtig" und produzieren ständig selbst-manipulierte Erinnerungen? Konstruieren wir die Erinnerung als immer neu zu erzählende Geschichte, da wir uns nicht erinnern, sondern nur an die Erinnerung erinnern…?

 

A Box of Ku #0719 © Masao Yamamoto

 

Die meisten Serien erstrecken sich über mehrere Jahre, Etappen entlang eines Werkflusses, der durch das Leben mäandert.

"A Box of Ku" betont Intimität, Zeit und Erinnerung. Manchmal hängt Yamamoto die Abzüge nicht assemblagearitg an die Wände, sondern versammelt sie in einer Kiste und fordert die Besucher zum Stöbern auf. Wie eine Erinnerung können die kleinen Silbergelatineabzüge in der Hand oder zwischen den Fingerspitzen gehalten, an die Augen und Nase geführt werden, um besser berührt, betrachtet und gerochen zu werden.

 

Nakazora #1275 © Masoa Yamamoto
Der Makake, ein Altweltaffe, aus der Nakazora-Serie ist für Sofie S.

 

Die Makaken suchen im Winter in kühleren Regionen gerne heiße Quellen auf, die im vulkanreichen Japan recht häufig sind. Um ihre Körpertemperatur zu regulieren, halten sie sich manchmal stundenlang in diesen warmen Gewässern auf. Das Foto zeigt einen dieser Schnee-Affen, der sich, in Dreiviertelansicht und bis zur Brust im Wasser weilend, darin spiegelt. Mit geschlossenen Augen, anmutig, würdevoll, gelassen, befindet er sich im Zustand des Nakazora:

 

(...) in water and in air, in the steamy warmth of the hot spring and in the wintry mountain cold, between sleep and wakefulness, between the gravity of her body and the ethereal shimmer of her reflection (Sara Crowe zit.n.photocurios)

 

Nakazora beschreibt verschiedene Zustände des Dazwischen, der Unentschlossenheit. der Leere, des Schwebens, eine Grenzzone zwischen Himmel und Erde, "wo die Vögel fliegen" (vgl. photocurious) und die Makaken baden.

 

Nakazora #811 © Masao Yamamoto

 

"Kawa=Flow" - der Titel der Serie bezieht sich auf die Reise von der Gegenwart in die Zukunft, von einer konkreten Situation zu dem Unbekannten, das vor uns liegt - bricht mit dem Ausstellungsformat der kleinen ungerahmten Fotos und setzt einzeln montierte und gerahmte an seine Stelle. Die ungealterten Fotografien dieser Serie werden in der regelmäßigen, konventionellen Art und Weise von Galerie-Fotoausstellungen gehängt. Sie sind auch größer als die handtellergroßen Abzüge früherer Projekte, und während die charakteristischen Elemente seines Stils präsent bleiben - Motive aus der Natur, starke Kontraste, monochromatische Feinheiten und geometrische Präzision -, wird die Auseinandersetzung zwischen Bewegung und Stillstand und damit die Erfahrung von Zeit in jedem Bild neu behandelt.

"Kawa-Flow" wird bestimmt von der Idee der Fotografie als Haiku - jedes kleine Bild eine exquisite Aufnahme eines Moments, jeder Moment ein winziger Teil des endlosen Flusses des Lebens, unserer unaufhörlichen Bewegung von einem Jetzt zu einem Jetzt zu einem Jetzt. (vgl. photocurios). Die Bilder verehren eine gleichzeitige und ewige Gegenwart.

 

KAWA=FLOW  #1613, 2012 © Masao Yamamoto

 

Yamamotos Fotografie ist durchdrungen sowohl von Ästhetik als auch von Sensibilität. Beides hat ihren Ursprung im Zen-Buddhismus, Shintoismus, Daoismus und der japanischen künstlerischen Tradition. Sie nimmt auf auf spirituelle und ästhetische Konzepte wie Leere, Wabi-Sabi, Haiku, Yûgen Bezug:

An die ästhetische Tradition des Wabi-Sabi, in der Objekte für ihre Unvollkommenheit, Verwitterung und Authentizität geschätzt werden, erinnert die beschleunigte Alterung der Fotografien. An japanische Haiku, kurze Gedichte, erinnern die Fotografien, da sie ihre Kraft ebenso aus einfachen, direkten, alltäglichen Bildern aus der Natur beziehen. Das traditionelle ästhetische Konzept des Yûgen, mit dunkel, tief und mysteriös nur unzulänglich übersetzt, schätzt das Angedeutete und Verborgene höher als das offen zu Tage Liegende und klar Exponierte. Yûgen ist damit vornehmlich eine Stimmung, die sich für jene Andeutungen eines Transzendenten offen hält.

 

#4(dog on river), 1993 © Masao Yamamoto

 

Yamamoto zeigt eine zarte, flüchtige, harmonische Welt, die für jeden sichtbar ist, aber nicht von jedem wahrgenommen wird. Die meisten seiner Motive entnimmt er der Natur - Landschaften, Vögel, Bäume, Blüten, Insekten, Tiere, Blumen, Blätter, Felsen, Gewässer, Wolken, Vogelnester. Er ist ein wandernder Fotograf, der absichtslos - ohne Vorstellung und Ziel -, aber mit offenem Geist beobachtet und fotografiert. Er ist ein Entdeckender und Staunender.

Ich habe lange nach einem Wort gesucht, das seine Fotos bzw. das sie auslösende Gefühl am besten ausdrückt: Sie werden als spirituell, mystisch, harmonisch, raffiniert, subtil, kraftvoll beschrieben. Doch das passende Wort ist beruhigend, Frieden und Aussöhnung erzeugend. Yamamoto selbst hat es vorgeschlagen:

 

For me a good photo is one that soothes. Makes us feel kind, gentle. A photo that gives us courage, that reminds us of good memories, that makes people happy. (Yamamoto Masao zit.n. LensCulture)

 

© Masao Yamamoto

 

Masao Yamamoto wurde 1957 in der kleinen, halbländlichen Stadt Gamagori in der japanischen Präfektur Aichi geboren. Er studierte Bildende Kunst und Ölmalerei bei dem Künstler Goro Saito, bevor er sich 1980, in seinen 20ern, der Fotografie zuwandte, dennoch bleibt sein malerischer Hintergrund in seinen Werken offensichtlich. Er verwendet einen schwarz-weißen 35-mm-Film. Davon produziert er in seiner eigenen Dunkelkammer Silbergelatine-Abzüge, von denen er 20-40 Versionen ausgewählter Bilder anfertigt.

Wie meditative Objekte setzten sich die minimalen Motive mit ihrem oftmals transzendenten Ton der aktuellen Bilderflut des digitalen Zeitalters und der formalen Monumentalität und Farbigkeit der zeitgenössischen künstlerischen Fotografie entgegen.

 

Nakazora #1051, 2002 © Masao Yamamoto

 

Yamamotos Abzüge nehmen die Aura alter Familienschnappschüsse an, die Jahrzehnte in Schubladen, Alben und Dachböden verbracht haben und durch ihr altes Aussehen zum Nachdenken anregen - über Erinnerung, den Lauf der Zeit, den Fluss des Lebens.

Vielleicht werden die zwei Fotos meiner verstorbenen Hunde Lucy und Rocco, die ich in meiner Geldbörse bei mir trage, einmal so alt aussehen wie Yamamotos Abzüge. Dreißig, vierzig Jahre aufbewahrt - dog-eared - und nicht künstlich, sondern an der Hunde statt mit mir gealtert.

 

Quellen: LensCulture, Jackson Fine Art, Yancey Richardson, Galerie Stefan Vogdt, Atlas Gallery, Medium u.a.

alle Fotos mit Hunden © Masao Yamamoto

 

Fotografie
21. Februar 2020 - 12:50

Hier sehen Sie Blossfeldts Hund.

 

Blossfeldt's Dog © Alice Wellinger

 

Doch wer war Blossfeldt? Laut Wikipedia war Karl Blossfeldt (1865-1932) ein deutscher Fotograf, der besonders durch streng-formale Pflanzenfotografien bekannt wurde. Er gilt fotokünstlerisch als Vertreter der Neuen Sachlichkeit.

Er sah seine Fotografien aber nicht als eigenständige künstlerische Leistung an, sondern als Vorlage und Unterrichtsmaterial für den Zeichenunterricht.

 

Karl Blossfeldt, Acanthus mollis, 1928

Karl Blossfeldt, Cucurbita, 1928

 

Die österreichische Illustratorin und Künstlerin Alice Wellinger verwendet seine Fotografien als Impuls für ihr Bild "Blossfeldt's Dog".

 

Blossfeldt's Dog © Alice Wellinger

 

Es  zeigt einen kubistisch zerlegten Hintergrund, aus dem Pflanzen im Stil von Karl Blossfeldt wachsen. Im Hintergrund strahlt die Morgenröte. Der Windhund verharrt verzweifelt in dieser zur Monumentalität aufgeblasenen und psychedelisch anmutenden Pflanzenwelt. Die Natur kommt hier sehr unnatürlich, fremd und verunsichernd daher. Schauen Sie nur das Auge des Hundes an! "Wo bin ich nur hineingeraten?", scheint er zu denken. Gut gewählt ist die sensible Rasse des Windhunds; kaum vorzustellen, dass sich ein Bernhardiner von dieser wundersamen Umgebung irritieren ließe.

Karl Blossfeldt wollte mit seinen "Pflanzenurkunden", wie er im Vorwort zu seinem Buch "Wundergarten der Natur" schreibt, dazu beitragen, die Verbindung mit der Natur wiederherzustellen. Diese Absicht konterkariert Alice Wellinger. Mir gefällt dieses Bild ganz besonders, weil es nur durch die Vergrößerung der Pflanzen und durch deren überbordende Ornamentik eine wunderbar bizarre und surreale Komponente bekommt.

Auf ihrer Instagram-Seite finden sich unzählige Arbeiten, wobei sie ihre kommerziellen Illustrationen nicht von ihren persönlichen Projekten trennt. Es finden sich viele verfremdete Gesichter, Körper, Körperteile, Pflanzen, Anklänge an Magritte, Kahlo, Rousseau, literarische und künstlerische Querverweise. Die narrativen, figurativen Arbeiten sind hintersinnig, ironisch, surreal, nüchtern oder poetisch und lassen breiten Raum für Assoziation und Interpretation.

Inspiriert wird die Künstlerin vom Alltag, von Kindheitserinnerungen, vergangenen Erfahrungen und Albträumen. Sie ist eine genaue Beobachterin von menschlichem und tierischem Verhalten, von Gefühlen und emotionalen Kämpfen, die sie in kleine Geschichten verpackt. Sie mag es, wenn die Leute etwas zum Nachdenken haben.

Alice Wellinger (*1962 in Lustenau/Österreich) war lange als Grafikdesignerin für Werbeagenturen tätig, bevor sie begann Kinderbücher zu schreiben und zu illustrieren. Heute arbeitet sie vor allem als freie Illustratorin für den Editorial-Bereich von Magazinen und an freien künstlerischen Projekten in unterschiedlichen Techniken (vor allem Acryl, aber auch Collagen und Buntstift auf schwarzem Tonpapier). Alice Wellingers Arbeiten wurden mehrfach international ausgezeichnet, ausgestellt und in Annuals publiziert.

Die Fotos von Karl Blossfeldt stammen von commons.wikimedia

Blossfeldt's Dog © Alice Wellinger

 

Fotografie, Grafik, Malerei
6. Februar 2020 - 10:13

Neben David Titlow möchte ich Ihnen noch einen Taylor Wessing Photographic Portrait - Preisgewinner vorstellen, der meine Aufmerksamkeit erregt hat, und zwar Pat Martin, den Gewinner von 2019. Zwei Porträts seiner Serie "Goldie (Mother)" - Gail and Beaux sowie Mom (our last one) - wurden ausgezeichnet.

Als ich dieses Foto nur ganz kurz betrachtet habe, nur so lange, um die Entscheidung zu treffen, dass es etwas für den Blog wäre, lag seine Spannung im Kontrast zwischen der schwergewichtigen Frau und dem winzigen Hund. Wahrscheinlich sehe nicht nur ich mich in unserer medial aufgeladenen und reizüberfluteten Zeit permanent mit Fernsehserien wie "The Biggest Loser" oder "No Body is perfect" konfrontiert, in denen dicke Menschen unterschwellig vorgeführt werden. In einem Sekundenbruchteil wollte ich die Frau beim Thema Übergewicht einordnen und als undisziplinierte Angehörige einer bildungsfernen und ökonomisch schwachen Schicht abwerten.

Doch es gelang mir nicht. Wieso verweigern sich diese zwei prämierten Fotografien der despektierlichen Betrachtung und voyeuristischen Aneignung? Wieso erstarb mein Schmunzeln sofort?

Und wieso berührt mich dieses Bild?

 

Pat Martin, Gail and Beaux, 2018 © Pat Martin

 

Beide Porträts zeigen die Mutter des Fotografen. In einem Porträt blickt sie streng und hart in die Kamera und umfasst einen kleinen Chihuahua, dessen Gesicht sich auch auf ihrem T-Shirt befindet. Das andere zeigt sie in Nahaufnahme, wobei ihr Kopf fast das Format ausfüllt und ihr gefärbtes rotbraunes Haar ihre schweren Gesichtszüge einrahmt. Die gesprenkelte Haut gleicht einer Landschaft gelebter Erfahrung, ihr abgewandter Blick ist nachdenklich und verschlossen. Es trägt den Titel Mom (our last one) und wurde nur zwei Monate vor ihrem Tod aufgenommen.

 

rechts - Pat Martin, Mom (our last one), 2018 © Pat Martin
links: Gail and Beaux, rechts: Mom (our last one),
beide aus der Serie Goldie (Mother), 2018

 

Schonungslos ehrlich stellt Pat Martin seine Mutter dar. Eine tiefe leise Traurigkeit, aber auch Leere zeigt sich in ihrem Gesicht (und straft das lustige T-Shirt Lügen). Gails Blick macht ihre Unempfänglichkeit gegenüber unserer Meinung deutlich, er verhindert, dass wir lachen oder uns überlegen fühlen.

Pat Martin (*1992/Los Angeles, USA) hat von 2015 bis 2018 hunderte Porträts seiner Mutter Gail aufgenommen und zwar in deren relativ ruhigen Lebenszeit, nachdem sie ihre Drogensucht überwunden, aber schon mit schweren Atembeschwerden zu kämpfen hatte.

Dem Sohn wurde der sich abzeichnende unwiederbringliche Verlust der Mutter bewusst und er begann mit Porträts, in denen er ihr nicht nur formal, sondern auch emotional immer näher kam. Er betrachtete sie, um etwas über ihr, aber auch sein bewegtes Leben zu erfahren. Sie zu fotografieren wurde für ihn zu einer Art in einen Spiegel zu schauen und unbekannte Spuren zu finden. Doch auch unter seinem tiefen - liebevollen - sezierenden Blick blieb sie seltsam schwer fassbar.

Neben dem fotografischen Eindringen und Einfühlen in ihr Selbst, war die Arbeit an der Serie gleichzeitig eine Möglichkeit ein leeres Familienalbum zu füllen. Pat Martin hatte nur wenige Fotos von sich: seine Geburt, die ersten Geburtstage. Es gab kein Bild seiner Mutter, kein fotografisches Dokument ihrer Existenz. Sie zu fotografieren, kam einem Sammeln von Erinnerungen gleich.

In einem langen Interview, das Pat Martin mit Sean O´Hagan führte, erfährt man die Familiengeschichte, die hinter der Goldie (Mother)-Serie steht. Er lässt uns an seinem Schicksal teilnehmen, das eng mit der Geschichte seiner Mutter verknüpft ist. Ich fasse seine Ausführungen ganz kurz zusammen. Sie helfen vielleicht zu verstehen, wieso sich der Fotograf so exzessiv am Motiv seiner Mutter abarbeiten musste:

Der Vater verließ die Familie als Pat Martin drei Jahre alt war (hier enden auch die fotografischen Erinnerungen). Seine Mutter war süchtig und psychisch krank, unterlag Stimmungsschwankungen, war oft fort (auf Drogenentzug). Das einzig Beständige für den Sohn war die immer wiederkehrende Abwesenheit seiner Mutter, aber auch die nachlässige Betreuung durch deren wechselnde Freunde und sein Gefühl des Unbehagens in deren Gegenwart, das ihn in seiner frühen Kindheit mit einem Gefühl der Angst und des Verlassenseins leben ließ. Später wurde die Mutter auch zu einem funktionierenden Elternteil, der mit Pat die Erfahrungen einer ökonomisch schwachen Existenz teilte. Nach einer Delogierung wurde er von der Familie seines besten Freundes aufgenommen. Er erinnert sich daran als eine Zeit des Glücks und der Stabilität.

Erst als Pat Martin erfuhr, dass seine Mutter an einer bipolaren Erkrankung litt und selbst Missbrauchsopfer ihres Vaters war, verringerte sich seine Wut auf sie. Das Fotografieren wurde zum therapeutischen Akt, zur Möglichkeit seine komplexe und widersprüchliche Beziehung zu ihr durchzuarbeiten. Das Gefühl der Kälte sollte durch warme Erinnerungen ersetzt werden.

Doch können Fotos die Geschichte umschreiben? Pat Martin sagt selbst:

 

"That stuff – my mother’s sadness, her addiction –

it is so much a part of me still." (zit. n. The Guardian)

 

Ich selbst finde es erschütternd und traurig zu sehen, wie groß seine Anstrengungen sind, doch noch so etwas wie schöne Erinnerungen zu erzeugen. Und wie schwierig es für ihn ist, endgültig anzuerkennen, dass die Kindheit freudlos und unsicher war und er vielleicht doch nicht die Mutterliebe erfahren hat, derer er wert gewesen wäre.

 

Pat Martin vor seinen prämierten Fotos, Foto Jorge Herrera

 

Ich bin mir darüber im Klaren, dass dieser Blogbeitrag das Thema Hund weitestgehend verlässt. Als ich das Foto von Gail und Beaux zum ersten Mal sah, wusste ich allerdings noch nicht, wohin mich die Auseinandersetzung mit ihm führen würde. Seine Geschichte hat mich bewegt, vielleicht konnten Sie ihr auch etwas abgewinnen.

Das Wichtigste kommt aber zum Schluss: Letztendlich habe ich doch noch einen Artikel gefunden, in dem über das weitere Schicksal des kleinen Hundes Beaux berichtet wird. Er lebt nun mit Pat Martin.

 

"He's a four-year-old chihuahua, and is now my little pup." (zit.n. Insider)

 

Bilder von Gail und Beaux © Pat Martin

 

Fotografie
30. Januar 2020 - 15:43

David Titlow, Konrad Lars Hastings Titlow, 2014 © David Titlow

 

Auf den ersten Blick sehe ich drei Erwachsene auf einem Sofa sitzen, einen Säugling und einen Hund. Einer hält den Hund, sodass ihn das Kleinkind, das wiederum von einer jungen Frau gehalten wird, begrüßen kann. Das Kind berührt die Schnauze des Hundes mit seiner kleinen Hand. Der Bub, dessen Kopf vom Licht beleuchtet wird, sieht den Hund offen, freudig und interessiert an, zeigt einen Moment reiner Unschuld und strahlenden Staunens. Auch das Gesicht des jungen Mannes, der das Kind hält, ist beleuchtet. Die gesamte Szene wird von den Erwachsenen, die das Kind umgeben, mit bedächtigen Blicken beobachtet.

Die Farbstimmung wird durch sanfte dunkle Grau- und Grüntöne bestimmt. Gesichter, Sofa und die romantisch gemusterte Tapete sind in leichtem Grau-Rosa gehalten. Sogar die Getränkedosen passen sich der dunkelgrünen Tonalität an. Alles scheint wohl durchkomponiert zu sein (die Armhaltungen des Kindes und des jungen Mannes, die einander spiegeln; die Vorderbeine des Hundes, die parallel zum Unterarm des Kindes sind usw.)

Auf den zweiten Blick erkenne ich die Ähnlichkeit zu einem barocken Gemälde, wie es zum Beispiel von Bartolomé Esteban Murillo gemalt sein könnte. Erinnert das Gesicht des jungen Mannes rechts nicht an eine pausbäckige Knabendarstellung des spanischen Malers, lässt uns die ganze Szene nicht an Murillos Darstellung der Hirten denken, die Jesus ein Geschenk bringen? Sicher eröffnen sich noch andere Szenen der heiligen drei Könige und des Jesuskindes, wenn man nur länger in der Kunstgeschichte unter den "Alten Meistern" sucht.

Verkleinert man den Bildausschnitt zur Szene der Berührung landet man sogar bei Michelangelos "Erschaffung Adams", paraphrasiert zu God created Dog.

Natürlich haben wir keinen alten Meister vor uns, sondern einen zeitgenössischen Meister der Fotografie, den britischen Künstler David Titlow. Die Fotografie zeigt seinen kleinen Sohn, betitelt: Konrad Lars Hastings Titlow.

Obwohl ich so viel in Beleuchtung, Komposition, inhaltliche Zitierung hineininterpretiert habe, ist das Foto ist gänzlich uninszeniert. Titlow erweist sich hier nach eigenen Angaben als Meister des Schnappschusses.

Das Foto zeigt den Morgen nach einer Mittsommerparty in Rataryd in Schweden, an dem es zu einer zufälligen Begegnung zwischen einem Baby und einem Hund kommt.

 

“Everyone was a bit hazy from the previous day’s excess. My girlfriend passed our son to the subdued revellers on the sofa – the composition and back light was so perfect I had to capture the moment.” (zit. n. National Portrait Gallery)

 

Das Foto fängt also einen spontan aufgenommen Moment ein, in dem Komposition, Licht und Schatten zufällig eine wundersam schöne und stimmige Szene hervorbringen - nicht zuletzt durch die Präsenz und das Charisma des kleinen Porträtierten, der das Bild aus der Masse der Kinderporträts (mit Hund) hervortreten lässt.

David Titlow arbeitet in London als Porträt-, Werbe- und Modefotograf für zahlreiche Magazine, darunter Esquire, The Times, The Telegraph, Vice, Vanity Fair und Rolling Stone. Ursprünglich verfolgte er eine musikalische Karriere, wechselte aber in den frühen neunziger Jahren zur Fotografie. 2014 hat er für das oben vorgestellte Foto den Taylor Wessing Photographic Portrait Prize gewonnen.

Der jährlich vergebene Preis gilt als einer der renommiertesten europäischen Preise für Porträtfotografie, obwohl ich bei meinen Recherchen auch auf kritische Stimmen gestoßen bin, die das Klischeehafte der prämierten Fotografien bemängeln. Auf Titlows Werk trifft das zweifellos nicht zu!

 

Foto © David Titlow

Fotografie
25. September 2018 - 11:10

Zwischen 1961 und 1981 fotografiert die britische Künstlerin Shirley Baker den Alltag der englischen Arbeiterklasse in den innerstädtischen Vierteln von Manchester und Salford. Ihr Blick ist nicht sentimental, sondern zeigt viel Zuneigung, Wärme und Leidenschaft für ihre menschlichen (und tierischen) Motive. Sie sieht es als ihre Pflicht an, jene Menschen zu repräsentieren, für die sich damals niemand interessierte; die gesellschaftlich Abgehängten, die versuchten an dem Leben festzuhalten, das sie kannten, obwohl sich ganze Stadteile nach dem 2. Weltkrieg änderten. Und sie sieht es als ihre Pflicht an, diese Stadtviertel zu dokumentieren, bevor diese im Zuge der Slum-Clearence-Projekte verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.

 

The Street photographs © Shirley Baker

 

The Street photographs © Shirley Baker

 

“My sympathies lay with the people who were forced to exist miserably, often for months on end, sometimes years, whilst demolition went on all around them.” (Shirley Baker, on the slum clearances of inner Manchester and Salford)

 

Shirley Baker zeigt sowohl menschliche Interaktion und Kommunikation als auch die Beziehung der Menschen zu ihren Hunden. Sie spielt dabei formal und inhaltlich mit Gegensätzen (bezüglich Größe, Alter), aber auch mit Analogien zwischen den Menschen und ihren tierischen Begleitern. Mit viel Humor zeigt sie uns kleine Dramen des britischen Alltags, erzählt sie Geschichten der, wie man heute sagen würde, menschlichen Resilienz.

 

People and Dogs © Shirley Baker, 1963

People and Dogs © Shirley Baker, 1960

People and Dogs © Shirley Baker, 1977

People and Dogs © Shirley Baker

People and Dogs © Shirley Baker

People and Dogs © Shirley Baker, 1966

People and Dogs © Shirley Baker

People and Dogs © Shirley Baker

People and Dogs © Shirley Baker

 

Ab 1965 wendet sie sich auch der Farbfotografie zu. Hier ein gleichzeitig melancholisch und humorvolles Beispiel für wartende Hunde im Auto. Müssen Sie da nicht auch gleich an Martin Usborne denken, der dieses Sujet in "Mute: The Silence of dogs in Cars“ aufgegriffen hat?

 

People and Dogs © Shirley Baker

 

Shirley Baker (*1932/Kersal, North Salford, gest. 2014) war eine der faszinierendsten DokumentarfotografInnen mit sozialem Anliegen Großbritanniens. Obwohl ihr wegweisendes Werk sowohl in ihrer Heimat als auch international ausgestellt wurde, gibt es noch viele Werkgruppen zu entdecken. Für uns besonders interessant natürlich ihr Blick auf die Hunde-Ausstellungen, die sie ab den 1960er Jahren fotografisch begleitet.

Eine Auswahl der entstandenen Fotos, ein hinreißendes Porträt des Phänomens “Dog Show“, erscheint Ende Oktober 2018 als Buch im Verlag Hoxton Mini Press. Unten sehen sie Beispiele dieser zärtlichen, amüsanten und manchmal obsessiven Beziehung zwischen Menschen und ihren Hunden.

 

Shirley Baker, Dog Show 1961-1978

Shirley Baker, Dog Show 1961-1978

Shirley Baker, Dog Show 1961-1978

Shirley Baker, Dog Show 1961-1978

Partnerlook!

Shirley Baker, Dog Show 1961-1978

Shirley Baker, Dog Show 1961-1978

Auch die Hundenerven liegen blank und müssen beruhigt werden!

Shirley Baker, Dog Show 1961-1978

Shirley Baker, Dog Show 1961-1978

Shirley Baker, Dog Show 1961-1978

Shirley Baker, Dog Show 1961-1978

Shirley Baker, Dog Show 1961-1978

 

Shirley Baker: "Dog Show 1961-1978", ISBN: 978-1-910566-40-4

 

Shirley Baker, Dog Show 1961-1978

 

Auf der Website Shirley Baker photographer finden sie weitere Arbeiten der Künstlerin, z.B. ihre Fotografien von den Stränden in Südfrankreich und Blackpool, sowie der Punks im Londoner Stadtteil Camden. Weiters ihren Werdegang, Neuigkeiten zu Ausstellungen und Publikationen uvm.
 

alle Fotos © Shirley Baker

 

Buch, Fotografie
18. September 2018 - 11:00

Aline Bouvy, Strategy of non cooperation 1, 2015 © Aline Bouvy und Albert Baroni

 

Aline Bouvy lässt sich in ihrer künstlerischen Arbeit von den Dingen in ihrer unmittelbaren Umgebung und ihrem Alltag inspirieren. Bei der 2016 in Brüssel gezeigten Ausstellung "Urine Mate" bildeten wilde Gräser, streunende Hunde und nackte Männer die Motive.

 

Aline Bouvy, Urine Mate 2, 2016 © Aline Bouvy und Albert Baronian Galerie, Brüss

 

In dieser Ausstellung kombinierte Aline Bouvy große Linolplatten und Fotos von blassen, verschwommenen männlichen Körpern, die hinter einem Schleier wilder, rauer und widerstandsfähiger Pflanzen verborgen waren. Jedes Foto zeigte eine andere Pflanzenart, die die Künstlerin aus den Brüsseler Stadtbrachen ausgewählt hatte.

 

Aline Bouvy, Urine Mate, Ausstellungsansicht © Aline Bouvy und Albert Baronian G

 

Unter und neben den Linoleumpaneelen kauerten die Hundereliefs. In den großen Galerieräumen wirkten die Tiere klein, einsam und verloren. Die Reliefs zeigten schlafende und kopulierende Hunde und eine vom Stillen ausgemergelte Hündin mit schmalem Kopf. Ein Hund mit geschlossenen Augen schien ganz traurig zu sein: Wie Tränen oder Regentropfen war ihm eine lineare Struktur ins Gesicht geschrieben. Analog zu den unkultivierten Pflanzen der Stadtränder liegt die Assoziation zu streunenden Hunden nahe, die der städtische Kontext hervorbringt.

Folgt man dem Pressetext auf der Homepage der Galerie Albert Baronian, dann geht Aline Bouvy Fragen nach gesellschaftlichen Normen, Werten, Moral und ästhetischer Akzeptanz nach. Sie hinterfragt sowohl unsere Normen als auch die Bilder, die von diesen Normen bestimmt sind und versucht die "schmutzigen" und "hässlichen" Elemente in ihren kreativen Prozess zu integrieren, um sich von jeder Kategorisierung zu befreien.

Das Hässliche und Schmutzige wird in der Ausstellung durch Urin, Hunde und Pflanzen repräsentiert. Sie sind die störenden, unerwünschten Elemente der Gesellschaft, das Nutzlose, der Müll. Menschliche Ausscheidung, Hunde wie Müll ausgesetzt und weggeworfen, Pflanzen, als Unkraut wertloser Bewuchs.

 

Aline Bouvy, Urine Mate, Ausstellungsansicht © Aline Bouvy und Albert Baronian G

 

Die Künstlerin zeigt uns aber die Schönheit dieser Pflanzen und die Emotionalität der Hunde. Mit zarter Farbigkeit und einer strengen Ästhetik hinterfragt sie etablierte Hierarchien von Macht und patriarchalen Systemen, ändert sie unsere Sicht auf das, was sauber oder schmutzig ist, auch die Sicht auf unsere eigenen Abfälle, wie zum Beispiel Urin.

Der Titel der Ausstellung "Urine Mate" bezieht sich auf eine Form des männlichen Alltagslebens. Aline Bouvy eignet sich diesen Begriff nicht nur an, sie spielt auch mit dem ähnlichen Klang von “Urine Mate” und “Urine Made”. Zwei Fotografien in der Ausstellung zeigen abstrakte Gipsskulpturen aus der Werkstatt der Künstlerin. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann sind die beiden Skulpturen aus Gips und dem Urin der Künstlerin hergestellt. Das Spiel mit Worten und deren unterschiedlicher Bedeutung zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk der mehrsprachig aufgewachsenen Künstlerin.

Aline Bouvy, Urine Mate 5, 2016 © Aline Bouvy und Albert Baronian Galerie, Brüss

Aline Bouvy, Urine Mate, Ausstellungsansicht © Aline Bouvy und Albert Baronian G

Aline Bouvy, Strategy of non cooperation 2, 2015 © Aline Bouvy und Albert Baroni

Aline Bouvy, Strategy of non cooperation 7, 2015 © Aline Bouvy und Albert Baroni

Aline Bouvy, Strategy of non cooperation 3, 2015 © Aline Bouvy und Albert Baroni

Aline Bouvy, Strategy of non cooperation 4, 2015 © Aline Bouvy und Albert Baroni

Aline Bouvy, Urine Mate 8 (collaboration with Alexandre Demenditte), 2015 © Alin

 

Aline Bouvy (*1974 in Brüssel/B) lebt und arbeitet in Luxemburg und Brüssel. Nach Jahren der Zusammenarbeit mit John Gillis arbeitet sie ab 2014 alleine. Ihre Arbeit wurde bereits in vielen Einzel- und Gruppenausstellungen in Europa und den USA gezeigt.

Aline Bouvy wird von den Galerien Albert Baronian, Brüssel, und Nosbaum Reding, Luxemburg, vertreten.

alle Fotos © Aline Bouvy und Galerie Albert Baronian

 

Fotografie, Installation, Skulptur