Auf den ersten Blick sehe ich drei Erwachsene auf einem Sofa sitzen, einen Säugling und einen Hund. Einer hält den Hund, sodass ihn das Kleinkind, das wiederum von einer jungen Frau gehalten wird, begrüßen kann. Das Kind berührt die Schnauze des Hundes mit seiner kleinen Hand. Der Bub, dessen Kopf vom Licht beleuchtet wird, sieht den Hund offen, freudig und interessiert an, zeigt einen Moment reiner Unschuld und strahlenden Staunens. Auch das Gesicht des jungen Mannes, der das Kind hält, ist beleuchtet. Die gesamte Szene wird von den Erwachsenen, die das Kind umgeben, mit bedächtigen Blicken beobachtet.
Die Farbstimmung wird durch sanfte dunkle Grau- und Grüntöne bestimmt. Gesichter, Sofa und die romantisch gemusterte Tapete sind in leichtem Grau-Rosa gehalten. Sogar die Getränkedosen passen sich der dunkelgrünen Tonalität an. Alles scheint wohl durchkomponiert zu sein (die Armhaltungen des Kindes und des jungen Mannes, die einander spiegeln; die Vorderbeine des Hundes, die parallel zum Unterarm des Kindes sind usw.)
Auf den zweiten Blick erkenne ich die Ähnlichkeit zu einem barocken Gemälde, wie es zum Beispiel von Bartolomé Esteban Murillo gemalt sein könnte. Erinnert das Gesicht des jungen Mannes rechts nicht an eine pausbäckige Knabendarstellung des spanischen Malers, lässt uns die ganze Szene nicht an Murillos Darstellung der Hirten denken, die Jesus ein Geschenk bringen? Sicher eröffnen sich noch andere Szenen der heiligen drei Könige und des Jesuskindes, wenn man nur länger in der Kunstgeschichte unter den "Alten Meistern" sucht.
Verkleinert man den Bildausschnitt zur Szene der Berührung landet man sogar bei Michelangelos "Erschaffung Adams", paraphrasiert zu God created Dog.
Natürlich haben wir keinen alten Meister vor uns, sondern einen zeitgenössischen Meister der Fotografie, den britischen Künstler David Titlow. Die Fotografie zeigt seinen kleinen Sohn, betitelt: Konrad Lars Hastings Titlow.
Obwohl ich so viel in Beleuchtung, Komposition, inhaltliche Zitierung hineininterpretiert habe, ist das Foto ist gänzlich uninszeniert. Titlow erweist sich hier nach eigenen Angaben als Meister des Schnappschusses.
Das Foto zeigt den Morgen nach einer Mittsommerparty in Rataryd in Schweden, an dem es zu einer zufälligen Begegnung zwischen einem Baby und einem Hund kommt.
“Everyone was a bit hazy from the previous day’s excess. My girlfriend passed our son to the subdued revellers on the sofa – the composition and back light was so perfect I had to capture the moment.” (zit. n. National Portrait Gallery)
Das Foto fängt also einen spontan aufgenommen Moment ein, in dem Komposition, Licht und Schatten zufällig eine wundersam schöne und stimmige Szene hervorbringen - nicht zuletzt durch die Präsenz und das Charisma des kleinen Porträtierten, der das Bild aus der Masse der Kinderporträts (mit Hund) hervortreten lässt.
David Titlow arbeitet in London als Porträt-, Werbe- und Modefotograf für zahlreiche Magazine, darunter Esquire, The Times, The Telegraph, Vice, Vanity Fair und Rolling Stone. Ursprünglich verfolgte er eine musikalische Karriere, wechselte aber in den frühen neunziger Jahren zur Fotografie. 2014 hat er für das oben vorgestellte Foto den Taylor Wessing Photographic Portrait Prize gewonnen.
Der jährlich vergebene Preis gilt als einer der renommiertesten europäischen Preise für Porträtfotografie, obwohl ich bei meinen Recherchen auch auf kritische Stimmen gestoßen bin, die das Klischeehafte der prämierten Fotografien bemängeln. Auf Titlows Werk trifft das zweifellos nicht zu!
Foto © David Titlow