Der immer gleiche Hund läuft, sich umschauend, in einer verlassenen Stadt herum. Die Rollläden sind heruntergelassen. Die Geisterstadt ist in unterschiedlichen Abstraktionsgraden gemalt.
Im ersten Bild ist der Hund groß dargestellt, er spiegelt sich in den Wasserlacken, der Umraum ist nur gestisch expressiv bestimmt. Aussehen und inneres Erleben des Hundes scheinen in allen vier Bildern unverändert, nur äußere Stimmungs- und Wetterlagen ändern sich. Im zweiten Bild scheint etwas Ruhe eingekehrt, die Luft ist klarer.
Ghost Town I und II zeigen fast denselben Bildausschnitt, wobei sich der Hund in der unteren Darstellung nahezu in Farbschlieren auflöst, er noch abstrahierter, entmaterialisierter und düsterer ist.
In dieser expressiveren Variante hat der Hund die gleiche Farbigkeit wie seine Umgebung. Neben dieser kalten Farbgebung bringt die Unschärfe etwas Geheimnisvolles, Lebendiges, aber auch Bedrohliches ins Bild.
Ich habe nach Spuren gesucht, die mir verraten, wieso mich diese Bilder an Asien denken lassen, etwa an ein verlassenes chinesisches oder japanisches Dorf. Welche Spuren habe ich gefunden: Der Bildtitel "Ghost Town" klingt nach einem Thriller aus dem Fernen Osten, einem Eastern. Zeigen sich vielleicht Schriftzeichen im expressiven Duktus? Könnte nicht der blinde Samurai gleich zwischen den Häusern hervortreten?
Ganz falsch lag ich mit meiner Spurensuche nicht, denn die Bilder zeigen eine japanische evakuierte Stadt. Die deutsche Künstlerin Sabine Moritz hat die Bilder fünf Jahre nach dem Reaktorunglück von Fokushima nach einem alten Zeitungsfoto gemalt. Da die Einheimischen ihre Tiere zurücklassen mussten, blieb nur der verwaiste Hund im Bild. Die alte Heimat wurde für die ehemaligen BewohnerInnen und die Zurückgelassenen zur Gefahrenzone in dreckigem Katastrophengrau.
Sabine Moritz malt von Motiven, die ihr wichtig sind, mehrere Versionen, wobei sie den Bildausschnitt unterschiedlich skaliert oder die Bildwirkung durch die Wahl der Farben ändert. Damit dekontextualisiert sie das vorgegebene Motiv. Anstatt den Reaktorunfall zu malen, stellt sie dessen Auswirkungen dar und lässt uns im Unklaren darüber, was passiert ist.
Die Künstlerin wurde 1969 Quedlinburg in Ostdeutschland geboren und kam 1985 mit 16 Jahren in den Westen. Sie studierte zunächst an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, bevor sie in die Kunstakademie Düsseldorf eintrat. Schon während des Studiums begann sie aus dem Gedächtnis zu zeichen, etwa die Plattenbausiedlung Lobeda nahe Jena, wo sie aufgewachsen war. Später zog sie für ihre Bilder auch Familienschnappschüsse, eigene Fotos und Zeitungsquellen zur Ergänzung der Erinnerung heran.
Und um Erinnerung geht es in vielen ihrer Werke: die Erinnerung an Ihren Vater, der bei einem Arbeitsunfall starb, als sie gerade vier Jahre alt war, die Erinnerung an die DDR, die ihr verloren schien und Heimweh verursachte, nachdem die Familie 1985 von Jena nach Darmstadt ausreisen durfte. In ihrer Malerei konkretisieren sich Moritz' Untersuchungen darüber, wie man sich erinnert und wie die Erinnerungen einer ständigen Veränderung und Verzerrung unterzogen sind, ja einem Verblassen anheimfallen. Mit ihren figurativen Bildern malt sie gegen das bevorstehende Vergessen an und erzählt gleichzeitig von persönlichen Erfahrungen, die Teil einer kollektiven Geschichte sind.
Screenshot von Marian Goodman Gallery
Ich war in meiner Bildersuche und Internet-Recherche schon weit fortgeschritten, als ich las, dass Sabine Moritz seit 1996 die Ehefrau von Gerhard Richter ist. Zuvor war sie seine Studentin in Düsseldorf. Das hat mich insoferne überrascht, als ich noch nie etwas von dieser großartigen und vielschichtigen Künstlerin gehört hatte.
Vielleicht hatte ich erwartet, dass ihr als Frau des weltberühmten Gerhard Richter viele Türen offen stünden. Doch das Gegenteil scheint hier der Fall zu sein. Vielleicht will niemand in Verdacht geraten, sie aufgrund ihres Ehemanns zu protegieren. Wie anders ist es zu erklären, dass es vergleichsweise wenig mediale Resonanz auf ihre Bilder gibt, obwohl ihre Arbeiten in Deutschland unter anderem in der Kunsthalle Rostock, Kunsthalle Bremerhaven, Von der Heydt Kunsthalle Wuppertal und international in London und Paris ausgestellt wurden. Allerdings ist ihr Werk in einer großen Anzahl von Katalogen präsent.
Bis zum 27. März 2021 zeigt die Galerie Pilar Corrias in London ihre Arbeiten in der Einzelausstellung ‘Mercy’. Neben großformatiger abstrakter Malerei und Zeichnung wird erstmals ihr fotografisches Werk ausgestellt. Sehr umfassend werden ihre Arbeiten auf der Homepage der Galerie gezeigt.
Die Künstlerin lebt und arbeitet in Köln.
Quellen: Marian Goodman Gallery, Galerie Pilar Corrias, Felix Ringel Galerie
alle Bilder © Sabine Moritz