April 2023

27. April 2023 - 11:26

Ohne Titel, Video Still, 2019 © Jonas Brinker

 

Das ist nicht nur eine Wölfin, sondern auch eine Schauspielerin, "ein Profi", wie Jonas Brinker hier sagt. Einer von sieben Profis, die bei einem Tiertrainer in Hannover leben, der ihnen das Befolgen einfacher Kommandos beigebracht hat. Sie können auf Befehle hin posieren, laufen, sich hinlegen, zusammenkauern oder für einen Moment stillstehen. Ihr Können wenden die Wölfe bei Film- und Fernsehproduktionen an. Bei den vielen Mystery-, Fantasy- und Landkrimistoffen, die heute modern sind, sind sie sicher viel beschäftigt. "Unsere" Wölfin war sogar "Tatort"-Star.

 

Ohne Titel, Video Still, 2019 © Jonas Brinker

 

Sie ist aber auch Protagonistin und Performerin in Kunst-Zusammenhängen, z.B. in Jonas Brinkers Video "Standing Still". Das dressierte Tier befindet sich lediglich mit einem Papiermaché-Stein für viereinhalb Minuten im künstlichen Setting eines Filmstudios. Das Requisit nimmt einen zentralen Platz im Repertoire der einstudierten Bewegungsabläufe ein. Die Wölfin stellt sich dabei mit den Vorderpfoten auf den Stein, hebt den Kopf und heult. (Der eindrückliche Klang hallte 2019 bei der Ausstellung durch den gesamten Frankfurter Kunstverein.)

Diese beliebte Pose wird häufig in der Werbung, in Medienberichten und Zeitungsartikeln genutzt. Und eben diese Tatsache ist Ausgangspunkt für Brinkers künstlerische Recherche. Ihm war aufgefallen, dass sich die medial verbreiteten Darstellungen des Wolfs stark ähneln und den immer gleichen kompositorischen Prinzipien folgen. Dadurch beeinflussen sie die Art und Weise, wie wir die Tiere sehen und bewerten.

 

Standing Still, 2019, Ausstellungsansicht 1, FKV © Jonas Brinker, Foto Norbert M

Ausstellungsansicht Berlin Masters Foundation, 2021, Foto Marcelina Wellmer

 

Insbesondere in den vergangenen Jahren wurde die Rückkehr des Wolfes in deutschen Wäldern mit Angstszenarien verbunden, die immer wieder bestimmte Metaphern und Topoi aufrufen. Der Wolf steht für viele als Sinnbild für eine bedrohliche, wilde, jedoch auch kluge und freie Kreatur. Diese Stereotypen werden dem Tier vor allem durch eine bestimmte Bildsprache zugeschrieben, die den Wolf in Dokumentationen oder Spielfilmen als eben diese Metapher rahmen.

Pointiert zeigt Jonas Brinker in "Standing Still" das Zusammentreffen von Natürlichem und Künstlichem und führt uns vor Augen, wie die moderne Bilderproduktion unsere Wahrnehmung beeinflusst.

 

Standing Still, 2019, Ausstellungsansicht 2, FKV © Jonas Brinker, Foto Norbert M

 

Seine Videoarbeit baut auf diesen Konnotationen auf und zeigt selbst den Moment, in dem das Tier zum Bild wird. Vor einem Greenscreen drehte der Wolf seine Runden und stellt sich immer wieder auf einen künstlichen Stein, um in die Ferne zu blicken.

Das Tier wurde dressiert, sich in konditionierten Bewegungsabläufen nach dem Befehl des Menschen zu verhalten. Doch wie verhält es sich in einer offenen Versuchsanordnung, wenn es nicht mit einer Handlungsanweisung zur Aktion angehalten wird? Fehlen ihr die Kommandos in dieser unnatürlichen Umgebung?

Bei Brinker verfolgt die Kamera das Verhalten der Wölfin, die die meiste Zeit hilflos und unruhig hin- und herläuft. Ihr Verhalten schwankt zwischen ihrer natürlichen und einer antrainierten, inszenierten Verhaltensweise, zwischen Wildnis und Zivilisation.

Unten sehen sie drei Fotos, die ich auf Jonas Brinkers Instagram-Seite gefunden habe. Es sind Installationsansichten von "Standing Still" während  der Ausstellung  "Framing Movements", 2021 in Tel Aviv.

 

Standing Still, Installationsansicht Framing Movements, 2021, Tel Aviv

Standing Still, Installationsansicht Framing Movements, 2021, Tel Aviv

 

Ein Stein. Ein Wolf! Nichts wie weg!

 

Standing Still, Installationsansicht Framing Movements, 2021, Tel Aviv

 

2022 zeigte Jonas Brinker seine Arbeit "Interval" bei der Ausstellung "The Tide Is High" im Kunsthaus Wiesbaden. Die Ausstellung zeigte Projekte von 16 Künstlerinnen und Künstlern, die ein einjähriges Reisestipendium der Hessischen Kulturstiftung absolviert hatten.

Als er im Zuge dieses Stipendiums zu den Überresten einer unvollendeten Ferienanlage im Sinai zurückkehrte, fand er denselben streunenden Hund, den er zwei Jahre zuvor während eines Austauschprogramms gefilmt hatte. Er filmte ihn erneut, immer noch in der verlassenen Landschaft mit ihren Bauruinen umherirrend, gefangen in einer scheinbar ewigen Zeit. Er zeigt, wie die Aufhebung der Zeitlichkeit nur die anthropozentrische Perspektive beeinflusst und das Subjekt dezentriert, was zu einem weiteren Scheitern der menschlichen Geschichte führt.

 

This reveals how the suspension of temporality only affects anthropocentric perspective and de-centres the subject, leading human history to a further failure. (Silvio Saraceno hier)

 

Und Livne Weitzmann zu Brinkers Werk:

 

Jonas Brinker nutzt Film und Fotografie als Werkzeuge der Beobachtung und Kontemplation.In seiner Kinematografie geht es Brinker darum, anthropozentrische Zeitlichkeiten und Perspektiven zu dezentrieren und die komplexen Verhältnisse und Wechselwirkungen verschiedener Umwelten zu skizzieren und neu zu kontextualisieren.

 

Interval, 2022, Ausstellungsansicht Kunsthaus Wiesbaden, Foto Jens Gerber

Standbild aus Interval, 2022 © Jonas Brinker

Standbild aus Interval, 2022 © Jonas Brinker

Interval, 2022, Austellungsansicht Die Möglichkeit einer Insel

Interval, 2022, Austellungsansicht Die Möglichkeit einer Insel

 

Es geht also um das Zeit- und Ortsempfinden unterschiedlicher Spezies, um die Sicht der Tiere im anthropologisch konditionierten Raum. Was bedeuten zwei Lebensjahre für den Menschen, was sind zwei Jahre für den Hund? Obwohl der Mensch viel älter wird, erlebt er in zwei Jahren mehr, auch an örtlicher Veränderung: Der Künstler kommt von Berlin nach Tel Aviv und zurück.

 

Stray, Ausstellungsansicht Wilhelmshaven, 2023

 

Jonas Brinker (*1989, Bochum/D) studierte von 2015 bis 2018 an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste - Städelschule in Frankfurt am Main bei Prof. Douglas Gordon und Prof. Willem de Rooij und schloss sein Studium als Meisterschüler ab. 2015 graduierte er mit einem Bachelor in Fine Art an der Slade School of Fine Arts in London, GB. Gaststudien führten ihn zudem zur Bezalel Academy nach Tel Aviv und an die Universität der Künste, Berlin. Brinker konnte bereits an Gruppenausstellungen in Frankfurt am Main, San Diego, Amsterdam, London, Maastricht und Paris teilnehmen. Er lebt und arbeitet in Berlin, Deutschland.

Quellen: artmagazine, Berlin Masters, Die Möglichkeit einer Insel, FeuilletonFrankfurt, Frankfurter Rundschau, Frankfurter Kunstverein

alle Bilder © Jonas Brinker

Diesen und die nächsten Beiträge über Wölfe widme ich dem netten Währinger, mit dem ich mich kürzlich über Wölfe, jagende Afghanen, kroatische Mischlinge und "französische Bracken" unterhalten habe, sowie über die Liebe zu einem Hund, die lange über dessen Tod hinaus währt!

 

Installation, Video