Literatur

25. Januar 2021 - 22:30

"Aufhören", "Stopp", wollte ich am liebsten rufen, als ich das erste Mal den Film von Henri-Georges Clouzot "Le mystère Picasso" (1955) gesehen hatte. Er dokumentiert Picassos Schaffensprozess als Malerei in Bewegung und in der Zeit. Picasso malt auf farbdurchlässigen Stoffbahnen (sie entsprechen der Projektionsfläche), bleibt aber unsichtbar, die Kamera nimmt von der anderen Seite auf. Der Zuseher kann miterleben, wie ein Bild über dem anderen entsteht, wie eine gute Variation durch eine schlechtere ersetzt wird und umgekehrt. Unzählige Bilder stecken unter der Letztfassung, die durch das Ende des Films mitbestimmt ist.

Nur in Ausnahmefällen ist ein Schaffensprozess dokumentiert. Will man etwas über den Entstehungsprozess erfahren muss man auf allerlei kunsttechnologische Untersuchungen zurückgreifen (Digitale Infrarot-Reflektografie, Röntgenanalyse etc.)

So viel zur bildenden Kunst. Doch wie viele Schichten, Ebenen stecken in einem Gedicht? Erzeugt ein geändertes Wort ein neues Gedicht? Wie fällt die Entscheidung für oder dagegen?

An all das musste ich denken, nachdem mir die Lyrikerin Sofie Morin ein Gedicht zu einem Gemälde zugeschickt hatte, das sie dann durch ein anderes Gedicht ersetzte. Sie hatte meinen Blog und mich entdeckt, als sie auf der Suche nach Lotte Lasersteins Bild "Die Unterhaltung" von 1934 war.

 

Ich bin unter anderem Lyrikerin und ertappe mich in den letzten Monaten ständig dabei Hunde dort und da in meine Gedichte zu flechten. Als würden sie mir notorisch quer durchs Bild laufen. Eine andere meiner Angewohnheiten ist das Aufschlagen von Kunstbildbänden an beliebiger Stelle und dann das Dichten dazu. Nun hat hier offenbar beides zusammengefunden bei Lotte Lasersteins Gemälde mit Hund (…), schreibt mir Sofie Morin.

 

Auch hundeaffin, hat sie die zum Bild entstandenen Gedichte mit mir geteilt. Die zwei Gedichte waren für mich perfekt. Wie viele Variationen liegen aber noch zwischen den beiden?

Nun kann ich nicht Sofie Morins Schreibprozess, ihre Gedicht-Genese darstellen, wie sie vielleicht mit Kritzeleien, Durchstreichungen, Hinzufügungen gearbeitet hat, um zum vorliegenden Gedicht zu kommen, sondern muss mich alleine auf dessen Präsentation beschränken, die sie mir erfreulicherweise erlaubt hat.

 

beredt

auch unbeachtet
hältst du den raum

im verweilen beredt
keiner wie du
der hund

erdest erregtheit
mit seelenruhigem blick

vom äußersten bildrand
hütest die worte
einander hingeworfen

dein beharrlicher gleichmut
lässt keines entweichen

hellgesichtige redner
spannen bögen unversehens
über dich hinweg

du bewachst was sie sagen
was kein andrer wissen soll

lebhaft im schattenwinkel
das offene gespräch
unter dachschrägen verbannt

 

Sofie Morin, November 2020
Zu Lotte Laserstein "Die Unterhaltung" (1934)

 

Die Unterhaltung, 1934 © Lotte Laserstein
Foto von hier

 

Gedicht und Gemälde sind zweidimensional - am Anfang steht das weiße Blatt Papier und die leere Leinwand. Beschrieben und bemalt eröffnen beide Räume: das Bild im wörtlichen Sinn als Dachkammer/Dachschräge, während das Gedicht Wort-Räume entfaltet (z.B. hältst du den raum / im verweilen beredt).

Besteht eine Beziehung zwischen Gedicht und Gemälde und bezieht sich das eine ganz konkret auf das andere, entsteht ein (Denk)raum des "Dazwischen". Wir können vergleichen, zwischen Lesen und Schauen - vielleicht sogar Überprüfen - hin- und herspringen.

Sofie Morin rückt den Hund ins Zentrum, er bekommt die Bedeutung, die ihm zusteht: Denn seine bloße Anwesenheit erdet, behütet, bewacht. Somit konstituiert der Hund den Gesprächsrahmen (hellgesichtige redner / spannen bögen unversehens / über dich hinweg).

Das einfühlsame Gedicht trifft das Bild ins Mark. Können Sie nach Lesen des Gedichts "beredt" das Gemälde "Die Unterhaltung" noch anders sehen als von Sofie Morin beschrieben?

Sofie Morin lebt und arbeitet in Wilhelmsfeld bei Heidelberg/D.

 

Literarische Veröffentlichungen 2019/20 in: Die Rampe (Linz), Mosaik - FreiVers (Salzburg), Landstrich (OÖ), Schreibkraft (Graz), neolith (Wuppertal), Forum Land-Anthologie (NÖ), Zeilen.Lauf-Anthologie (Baden), Corona-Tagebuch Literaturherbst Heidelberg, MUC-Anthologie (München; ab Minute 40), Fluch't'raum (Wien), DUM (NÖ) (3 Ausgaben), &radieschen (Wien), Literarischer Salon Kurpfalzmuseum (Heidelberg), Scivias-Anthologie (Herder-Verlag), Pappelblatt (Wien, 3 Ausgaben), Die Stille (Braunschweig), Syltse (Wien; 2 Ausgaben), Phantastische Bibliothek Wetzlar (2 Anthologien), Literaturherbst Heidelberg, Lit:us Fanzine, Theater Heidelberg & Rhein-Neckar-TV: Coronline Show II: (ab Minute 12)etcetera (St.Pölten), Litopian AnthologieInternational Online Exhibition UNESCO Cities of LiteraturePoesie unterwegs 2019&20 (Heidelberg), UND (Innsbruck), Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis-Anthologie 2020  (Quintus Verlag), perspektive (Graz/Berlin/Wien), Lyrische Hefte (Salzburg), klischée (Heidelberg), Hörspielplatz (Bermudafunk, Karlsruhe), Bermudafunk Lesung Kurzgeschichte “Fremdkörper”: (ab Minute 44)Poesie Album neu (Leipzig), Das fröhliche Wohnzimmer (Wien), MixTape (Moloko Print), Lyrik der Gegenwart (Anthologie  Edition Art Science),  Mosaik - Freivers Bachmann (Salzburg) INKA-Magazin (Karlsruhe), Anthologie zum 6. Bubenreuther Literaturwettbewerb, Poetica Pandemica (Lorbeer Verlag), Mosaik-FreiVers Amerika gemeinsam (Salzburg), Baltrum-Verlag (Pfalz), Wuppertaler Literatur Biennale 2020 (ab Minute 11:40), Corona-Überleben-Tagebuch (Ebbe & Flut-Verlag, Wien) #PrinzipHoffnung (Literaturstadt Heidelberg), Mosaik Adventskalender 2020

 

Film, Literatur, Malerei
4. Februar 2014 - 8:40

In den Gedichten von Joseph Zoderer - beginnend und endend mit philosophischen Fest- und Fragestellungen - findet das Leben und Sterben mit Django in der Kunst eine Entsprechung. Django, der Schäferhund von Joseph Zoderer, verbrachte sieben Jahre mit dem Südtiroler Schriftsteller. Nach seinem Tod verfasste Zoderer den Gedichtband "Hundstrauer". Erleichterte ihm das Dichten die Trauer? Gab es dem Zurückdenken einen Anker, um nicht zu versinken im Strudel der Erinnerung und im Meer der Verzweiflung? Ein schmaler Lyrik-Band bloß und doch flossen sogleich meine Tränen.

 

 

Hedy und Zoderer © Petra Hartl

 

Eine Freundschaft, Seelenverwandtschaft, vorbehaltlose und große Liebe wurde in Worte gegossen. Das berührt. Wiedererkennen der Freude, des Glücks und des Unglücks stellt sich beim Leser ein, der mit Hund lebt oder nach dem Tod eines Hundes mit dem Schmerz des Zurückgelassenen weiterlebten musste. Denn meist stirbt der Hund zuerst – Gottseidank, denn was würde aus ihm ohne uns?

Jeglicher Mangel an menschlicher Überheblichkeit zeichnet die Gedichte aus, vielmehr verneigt sich das lyrische Ich vor der Unschuld der Natur: Ich möchte ein Hund sein / um ohne Schuld / zu sein

Zoderer erinnert in Gedichten an geteilte Momente, an die Weisheit des Tieres, an bedingungslose Zuneigung des Weggefährten, aber auch an die Freundschaft mit menschlichem Verrat. Regelmäßig wird der Hund verlassen, das Glück der Gemeinsamkeit aufgegeben für Alltägliches: Und so verließ ich dich / regelmäßig /ohne Gewissensbisse / auch wenn mich / kein Meter Asphalt näher / brachte / an ein besseres Leben

An einer Stelle heißt es: denn die Bewegung der Hand / war eine ernste Sprache / zwischen uns

War unsere Stille / die wirkliche Sprache? an einer anderen.

Dein Tierblick / war / voll von Ferne / Aber dein Fell / dampfte vor Nähe. Ein Gefühl der Getrenntheit und Melancholie zum sprachlosen Anderen stellt sich ein, trotz der Nähe. Das letzte Gedicht:

Warum warst du / ein Hund / und ich / ein Mensch

 

Aufmerksam geworden auf "Hundstrauer" bin ich übrigens durch die Radiosendung Nachtbilder auf Oe1 - einem österreichischen Sender, den ich vorbehaltlos empfehlen kann - die dieser letzten Verneigung Zeit und Raum gab. Selten habe ich mich über ein Buch so gefreut, wie über das danach Erstandene. Josef Fürpaß ergänzt den Gedichtband mit Zeichnungen, die nur andeuten und nicht festlegen.

 

 

Hedy und Fürpaß © Petra Hartl

 

Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, aufgewachsen in Graz, lebt heute als freier Autor in Südtirol. Seit seinem Roman "Die Walsche" (1982) zählt er zu den herausragenden Stimmen deutschsprachiger Erzählliteratur. Sein Werk wurde mit internationalen Preisen ausgezeichnet.

 

 

Ich bin doch keine Buchstütze! © Petra Hartl

 

Joseph Zoderer, Hundstrauer, Haymon Verlag, Innsbruck-Wien, 2013

 

Buch, Literatur, Zeichnung