Neben David Titlow möchte ich Ihnen noch einen Taylor Wessing Photographic Portrait - Preisgewinner vorstellen, der meine Aufmerksamkeit erregt hat, und zwar Pat Martin, den Gewinner von 2019. Zwei Porträts seiner Serie "Goldie (Mother)" - Gail and Beaux sowie Mom (our last one) - wurden ausgezeichnet.
Als ich dieses Foto nur ganz kurz betrachtet habe, nur so lange, um die Entscheidung zu treffen, dass es etwas für den Blog wäre, lag seine Spannung im Kontrast zwischen der schwergewichtigen Frau und dem winzigen Hund. Wahrscheinlich sehe nicht nur ich mich in unserer medial aufgeladenen und reizüberfluteten Zeit permanent mit Fernsehserien wie "The Biggest Loser" oder "No Body is perfect" konfrontiert, in denen dicke Menschen unterschwellig vorgeführt werden. In einem Sekundenbruchteil wollte ich die Frau beim Thema Übergewicht einordnen und als undisziplinierte Angehörige einer bildungsfernen und ökonomisch schwachen Schicht abwerten.
Doch es gelang mir nicht. Wieso verweigern sich diese zwei prämierten Fotografien der despektierlichen Betrachtung und voyeuristischen Aneignung? Wieso erstarb mein Schmunzeln sofort?
Und wieso berührt mich dieses Bild?
Beide Porträts zeigen die Mutter des Fotografen. In einem Porträt blickt sie streng und hart in die Kamera und umfasst einen kleinen Chihuahua, dessen Gesicht sich auch auf ihrem T-Shirt befindet. Das andere zeigt sie in Nahaufnahme, wobei ihr Kopf fast das Format ausfüllt und ihr gefärbtes rotbraunes Haar ihre schweren Gesichtszüge einrahmt. Die gesprenkelte Haut gleicht einer Landschaft gelebter Erfahrung, ihr abgewandter Blick ist nachdenklich und verschlossen. Es trägt den Titel Mom (our last one) und wurde nur zwei Monate vor ihrem Tod aufgenommen.
links: Gail and Beaux, rechts: Mom (our last one),
beide aus der Serie Goldie (Mother), 2018
Schonungslos ehrlich stellt Pat Martin seine Mutter dar. Eine tiefe leise Traurigkeit, aber auch Leere zeigt sich in ihrem Gesicht (und straft das lustige T-Shirt Lügen). Gails Blick macht ihre Unempfänglichkeit gegenüber unserer Meinung deutlich, er verhindert, dass wir lachen oder uns überlegen fühlen.
Pat Martin (*1992/Los Angeles, USA) hat von 2015 bis 2018 hunderte Porträts seiner Mutter Gail aufgenommen und zwar in deren relativ ruhigen Lebenszeit, nachdem sie ihre Drogensucht überwunden, aber schon mit schweren Atembeschwerden zu kämpfen hatte.
Dem Sohn wurde der sich abzeichnende unwiederbringliche Verlust der Mutter bewusst und er begann mit Porträts, in denen er ihr nicht nur formal, sondern auch emotional immer näher kam. Er betrachtete sie, um etwas über ihr, aber auch sein bewegtes Leben zu erfahren. Sie zu fotografieren wurde für ihn zu einer Art in einen Spiegel zu schauen und unbekannte Spuren zu finden. Doch auch unter seinem tiefen - liebevollen - sezierenden Blick blieb sie seltsam schwer fassbar.
Neben dem fotografischen Eindringen und Einfühlen in ihr Selbst, war die Arbeit an der Serie gleichzeitig eine Möglichkeit ein leeres Familienalbum zu füllen. Pat Martin hatte nur wenige Fotos von sich: seine Geburt, die ersten Geburtstage. Es gab kein Bild seiner Mutter, kein fotografisches Dokument ihrer Existenz. Sie zu fotografieren, kam einem Sammeln von Erinnerungen gleich.
In einem langen Interview, das Pat Martin mit Sean O´Hagan führte, erfährt man die Familiengeschichte, die hinter der Goldie (Mother)-Serie steht. Er lässt uns an seinem Schicksal teilnehmen, das eng mit der Geschichte seiner Mutter verknüpft ist. Ich fasse seine Ausführungen ganz kurz zusammen. Sie helfen vielleicht zu verstehen, wieso sich der Fotograf so exzessiv am Motiv seiner Mutter abarbeiten musste:
Der Vater verließ die Familie als Pat Martin drei Jahre alt war (hier enden auch die fotografischen Erinnerungen). Seine Mutter war süchtig und psychisch krank, unterlag Stimmungsschwankungen, war oft fort (auf Drogenentzug). Das einzig Beständige für den Sohn war die immer wiederkehrende Abwesenheit seiner Mutter, aber auch die nachlässige Betreuung durch deren wechselnde Freunde und sein Gefühl des Unbehagens in deren Gegenwart, das ihn in seiner frühen Kindheit mit einem Gefühl der Angst und des Verlassenseins leben ließ. Später wurde die Mutter auch zu einem funktionierenden Elternteil, der mit Pat die Erfahrungen einer ökonomisch schwachen Existenz teilte. Nach einer Delogierung wurde er von der Familie seines besten Freundes aufgenommen. Er erinnert sich daran als eine Zeit des Glücks und der Stabilität.
Erst als Pat Martin erfuhr, dass seine Mutter an einer bipolaren Erkrankung litt und selbst Missbrauchsopfer ihres Vaters war, verringerte sich seine Wut auf sie. Das Fotografieren wurde zum therapeutischen Akt, zur Möglichkeit seine komplexe und widersprüchliche Beziehung zu ihr durchzuarbeiten. Das Gefühl der Kälte sollte durch warme Erinnerungen ersetzt werden.
Doch können Fotos die Geschichte umschreiben? Pat Martin sagt selbst:
"That stuff – my mother’s sadness, her addiction –
it is so much a part of me still." (zit. n. The Guardian)
Ich selbst finde es erschütternd und traurig zu sehen, wie groß seine Anstrengungen sind, doch noch so etwas wie schöne Erinnerungen zu erzeugen. Und wie schwierig es für ihn ist, endgültig anzuerkennen, dass die Kindheit freudlos und unsicher war und er vielleicht doch nicht die Mutterliebe erfahren hat, derer er wert gewesen wäre.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass dieser Blogbeitrag das Thema Hund weitestgehend verlässt. Als ich das Foto von Gail und Beaux zum ersten Mal sah, wusste ich allerdings noch nicht, wohin mich die Auseinandersetzung mit ihm führen würde. Seine Geschichte hat mich bewegt, vielleicht konnten Sie ihr auch etwas abgewinnen.
Das Wichtigste kommt aber zum Schluss: Letztendlich habe ich doch noch einen Artikel gefunden, in dem über das weitere Schicksal des kleinen Hundes Beaux berichtet wird. Er lebt nun mit Pat Martin.
"He's a four-year-old chihuahua, and is now my little pup." (zit.n. Insider)
Bilder von Gail und Beaux © Pat Martin