Am 5. Oktober wurde Oswald Wiener 80 Jahre alt. Noch relativ zeitnah möchte ich das zum Anlass nehmen, Ihnen seine bereits 2001 erschienene CD "Animal Music/Tiermusik" vorzustellen.
Einen ganz kurzen Abriss über Oswald Wieners Leben und Werk finden Sie auf Wikipedia. Kürzest zusammengefasst ist er Erkenntnistheoretiker, Kybernetiker, Sprachkritiker und Literat.
Ich bin zum ersten Mal in den frühen 1980er Jahren während meines Germanistikstudiums auf Oswald Wiener gestoßen. Er war der theoretische Kopf der "Wiener Gruppe" (1954-1964), einer radikalen Literaten-Gruppe, deren "Literarische Cabarets" stark aktionistischen Charakter hatten. Neben seiner literarischen Tätigkeit hat sich Oswald Wiener mit Kognitionswissenschaft beschäftigt. Er versuchte naturwissenschaftliche Methoden auf die Philosophie anzuwenden und künstlerische Prozesse mit wissenschaftlichen und philosophischen Fragestellungen zu verbinden. Im Falle der "Tiermusik" geht es um die Frage, ob es künstlerischen Strukturen (Musik) auch bei Huskys gibt.
Heute wohnt er im kanadischen Dawson im Yukon-Territory, wo er auch den Gesang der Schlittenhunde aufgenommen hat. Kein einfaches Unterfangen: Die Hunde sind scheu und bieten ihr Repertoire nicht so ohne weiteres den Menschen an. Sie "misstrauen gerade den Bewunderern ihrer Kunst und wollen sie, wie alle Dilettanten, unbelauscht ausüben" (vgl. Oswald Wiener im Booklet zur CD).
Oswald Wiener musste eigens einen Aufnahmerecorder ("Automatic Dog Music Recorder") entwickeln, der auch bei extremen Außentemperaturen noch selbsttätig auf akustische Signale reagiert, um die Stimmen bei Tag und Nacht einfangen zu können.
Oswald Wiener untersucht also die Möglichkeiten der Musikproduktion durch Hunde, geht den Fragen nach, ob es über den blinden Trieb von Hunger, Angst und Fortpflanzung hinaus eine Lust des Animalischen am eigenen Laut gibt. Ein Lautwerden im Dienst des Ästhetischen. Folgt man Oswald Wieners Beschreibungen der Hundegesänge mit musikalischen Fachbegriffen im Booklet zur CD, kann man das wohl bejahen.
"Die eigentümliche Genießbarkeit dieser Musik, die sich in Wiederholungen bewährt, zwingt zu dem Schluß, daß auch für die Hunde ein abstrakteres ästhetisches Erleben im Vordergrund steht. Im Hintergrund allerdings, stets, eine ästhetisch nicht zu kompensierende Trauer. Das ist nicht Klage über die konkreten Verhältnisse, die Ketten, den Hunger - unüberhörbar ist die Schöpfung selbst angeklagt..." (Oswald Wiener zit. nach Booklet zur CD)
Für die CD hat Oswald Wiener 35 expressive Gesänge versammelt, die er nicht weiter bearbeitet hat. Die "Singhunde" verfügen über eine weit reichere Skala von Lautäußerungen als Wölfe, möglicherweise hat der Mensch durch Jahrtausende währende Domestikation des Wolfes einen gewissen Anteil an der Klangschönheit der Schlittenhunde.
Lesenswert sind auch die Besprechungen der CD auf der Homepage von supposé. Ein amerikanischer Rezensent beschreibt die Reaktion eines Husky-Mischlings auf das Hören der Hundegesänge. Er habe die Ohren aufgestellt, eine halbe Minute zugehört und dann selbst - das Songthema variierend - eingestimmt. Das Heulen war also keine unmittelbare und selbständige Antwort, sondern eine Begleitung der Melodie.
Da auch ich das Privileg husky´scher Gesellschaft habe, ließ ich Hedy ein paar Gesänge anhören. Sie blickte irritiert und hielt den Kopf schief, die Ohren lauschend gespitzt.
Leider kann ich auf meinem Blog keine Hörbeispiele posten, deshalb ein Link zu einer Seite, wo das Herunterladen einer Klangdatei dieser beseelten Klagelieder funktioniert: floraberlin
Die Fotos des Beitrags entstanden durch Abfotografieren des Covers, der CD und des Booklets meines Exemplars.
Animal Music/Tiermusik: Team of Jeremy Roth, West Dawson, Yukon-Territory. Aufgenommen von Oswald Wiener und Helmut Schoener. Audio-CD, 35 Tracks, 50 Minuten, Booklet, 8 Seiten mit einem Essay von Oswald Wiener und Fotos von Ingrid Wiener, ISBN: 3-932513-25-8, supposé