8. April 2024 - 9:01

o.T., 2023 © Mi Shenghao

 

Ich habe es schon wieder getan! Ich habe ein Bild gekauft! Dieses großartige, flauschige Pudel-Bildnis des chinesischen Künstlers Shenghao Mi.

Ich konnte nur wenig über den Künstler in Erfahrung bringen: Shenghao Mi wurde 1996 in Shanghai, China, geboren. 2016 hatte er die Möglichkeit ins Ausland zu gehen und entschied sich für Florenz in der italienischen Toskana. Nach einem dreijährigen Studium an der Akademie der Schönen Künste zog er nach Mailand, wo er seinen Master-Abschluss in Malerei machte.

Seine Motive sind vor allem Tiere (Eulen, Tiger, Leoparden, Hunde), aber auch Porträts, Kinderspielzeug, Action-Figuren und alles, was ihm im Internet auffällt und er in seinem Stil wiedergeben möchte.

Die Figuren sind ins Bild gezwängt oder angeschnitten. Auffällig ist eine Unschärfe, die zu unklaren Umrissen und zu unklarer Anatomie führt. Die dargestellten Motive wirken verformt, verfremdet und abstrahiert. Ihn interessiert es, das abstrakte Element in einem realistischen Werk zu finden und umgekehrt.

 

It’s very interesting to find the abstract element in a realstic work vice versa.
(zit. n. overstandard)

 

Für Shenghao Mi lassen scharfe und definierte Bilder keinen Raum für den intimen und forschenden Blick des Betrachters, da das Auge in der Perfektion gefangen ist. Die Unschärfe und der Verfremdungseffekt, bedingt durch die angestrebte Nicht-Perfektion, zwingt den Betrachter förmlich zu einer tieferen Auseinandersetzung mit den Figuren.

Wir leben in einer Welt der überwältigenden Menge an unterschiedlichsten visuellen Informationen, in einem Zeitalter der Hochauflösung. Beidem will der Künstler quasi gewollte "Low-Fidelity-Kunst" entgegensetzen, die durch niedrigere Wiedergabetreue besticht.

 

o.T., 2023 © Mi Shenghao

o.T., 2023 © Mi Shenghao

 

In der Ausstellung "Someone is in my House“ in der  Galerie Suburbia Contemporary in Barcelona präsentierte Shenghao Mi 2023 seine neuen spannungsvollen Gemälde. Der Titel ist eine direkte Anspielung auf eine Ausstellung von David Lynch im Bonnefantenmuseum in Maastricht. Ebenso wie die Werke des berühmten amerikanischen Regisseurs möchte er unsere Gefühle, Sinne, Leidenschaften in Aufruhr bringen.

Shenghao Mi verwendet stark verdünnte Acrylfarbe, die er mit dem Pinsel oder der Airbrush aufträgt. Dabei legt er viele Farbschichten in fragmentierten und weichen Pinselstrichen übereinander, bis ein für ihn zufriedenstellendes Ergebnis hinsichtlich der Textur erreicht ist.
 

Someone is in my House, Ausstellungsansicht, 2023

Someone is in my House, Ausstellungsansicht, 2023
 

Oben zwei Ausstellungsansichten aus der Galerie Suburbia Contemporary, das untere mit "meinem" Bild.

 

alle Bilder © Shenghao Mi

Malerei
1. April 2024 - 9:06

"Der Schäfer ist ein Belgier", sagte mein (halb)lustiger Mann, als ich ihm vom Entwurf zu meinem neuen Blogbeitrag erzählte. Tatsächlich geht es in ihm aber um den Deutschen Schäferhund! Es ist die einzige Rasse, der ich sehr vorsichtig begegne. Sowohl zwei meiner Hunde als auch ich wurden schon von Schäferhunden gebissen. Die Zeit war längst gekommen, mich mit dem "Schäfer" näher zu befassen.

Einer, der sich intensiv mit dem German Shepard Dog (GSD) beschäftigt hat, ist der taiwanesische Künstler Wu Chuan-Lun (*1985 in Tainan/Taiwan). Ich möchte ihn anhand einer Ausstellung vorstellen, die er 2019 im Taipei Fine Arts Museum gezeigt hat. Die Ausstellung "No Country for Canine" war ganz dem Deutschen Schäferhund gewidmet - einer Hunderasse, die in der taiwanesischen und deutschen Geschichte, den beiden geografischen Berührungspunkten des Künstlers, präsent ist.

Wu nutzt sein persönliches Interesse - die Hunde - als Ausgangspunkt, um das Thema durch Sammeln, Klassifizieren, Studieren und künstlerisches Schaffen zu ergründen. Für seine konzeptionelle und forschungsbasierte Installationen setzt er eine Vielzahl von Medien ein: seine keramische Hundesammlung, eine Reihe von Skulpturen, Zeichnungen, Videos, Fotografien und Dokumente, die auf komplexe Weise miteinander verbunden sind.

 

When Collecting Becomes Breeding-Taiwan, 2012-2019 © Wu Chuan-Lun

 

Der Prozess des Sammelns bildet die Grundlage, um die Bedeutung der Objekte zu erforschen, aus denen er allmählich den zugrundeliegenden historischen und sozialen Kontext entschlüsselt. Am Topos Schäferhund erschafft er einen weitläufigen Diskursraum über Disziplinierung und Dominanz durch den Menschen, die Konstruktion nationaler Identität sowie die Geschichte von Krieg und Kolonialisierung. Der Deutsche Schäferhund wurde sowohl zu einem Emblem des Nationalismus als auch - als Sparbüchse - zu einer beliebten Massenware.

"No Country for Canine", hat der Künstler vom Roman "No Country for Old Men" des amerikanischen Schriftstellers Cormac McCarthy abgeleitet. Der ursprüngliche Romantitel bedeutet sinngemäß, dass die USA kein Land zum Altwerden seien. Das Ersetzen durch "Canine" und die dadurch erfolgte Substitution des Themas hat die kollektive Erinnerung an die Spezies der Hunde wachgerufen.

"When Collecting Becomes Breeding" - Taiwan: Seit etwa 2012 hat Wu Keramikspardosen in der Form des Deutschen Schäferhundes gesammelt, die in Taiwan, in Yingge, hergestellt wurden. Die Zeit, in der ihre Produktion begann, ist unklar, möglicherweise in den 1960er Jahren oder in der frühen Phase des raschen Wirtschaftsaufschwungs Taiwans. Ziemlich sicher wurde die Produktion in den 1990er Jahren aufgrund der Verlagerung von Fabriken eingestellt. (Die Töpfer- und Keramikindustrie wurde von der industriellen Revolution stark beeinflusst. Die Nachfrage nach Gebrauchskeramik wurde dank der ausgereiften Formtechnik befriedigt, die die Massenproduktion von Keramik ermöglichte. Die dekorative Keramik war nicht länger ein Luxusgegenstand, der nur der Oberschicht vorbehalten war, sondern wurde zum alltäglichen Haushaltsgegenstand breiter Bevölkerungsschichten.)

Deutsche Schäferhunde kamen während der japanischen Kolonialherrschaft nach Taiwan und wurden hauptsächlich von den oberen Gesellschaftsschichten gehalten. Daher waren sie lange Zeit als Symbol für Autorität, Überlegenheit und Kostbarkeit mit der Elite verbunden. Mit den kitschigen Sparbüchsen ahmte das einfache Volk die Kultur der Oberschicht nach. Die Spardose in Form des Deutschen Schäferhundes wurde zu einem beliebten Preis beim traditionellen Ringwurfspiel.

Von der Verarbeitung her nicht gerade exquisit, waren die "Sparschweine" wegen der Hundeform, der praktischen Möglichkeit, Geld zu sparen und als Dekoration beliebt. Neben dem Bett, auf dem Schreibtisch, im Schrank: Sie lächeln und begleiten Familien bis zum letzten Moment, wenn sie zerschlagen werden, um die Münzen aus ihren Bäuchen zu holen. Als Kindheitserinnerungen sind sie in mehreren taiwanesischen Generationen präsent.

Wie unsere lebenden vierbeinigen Freunde haben auch die Porzellanhunde ihre Eigenheiten. Sie nehmen zwar die gleiche, auf den Hinterbeinen sitzende Pose ein, aber einige sind schwarz, andere braun. Sie haben ausgefallene Schmuckhalsbänder oder rote Edelsteinaugen; einige sind groß und zottelig, andere klein und schlank.

 

When Collecting Becomes Breeding - Taiwan, 2019 © Wu Chuan-Lun

When Collecting Becomes Breeding-Taiwan, 2012-2019 © Wu Chuan-Lun

Domestication of Nations, 2019 © Wu Chuan-Lun

Domestication of Nations (Detail), 2019 © Wu Chuan-Lun

 

Die auf dem weißen Sockel arrangierten Schäferhundskulpturen bilden eine eigene Hundegesellschaft. Jeder für sich betrachtet, ist lediglich ein Objekt, eine Sparbüchse. In ihrer Gesamtheit betrachtet werden sie zu Trägern individueller und nationaler Geschichte.

"When Collecting Becomes Breeding" - Europe (2018-2019): Während eines Künstleraufenthalts in Berlin im Jahr 2017 erweiterte Wu seine Keramiksammlung um europäische Exemplare. Im Vergleich zu den Keramikhunden aus Taiwan nehmen die in Europa gefundenen Hunde meist eine liegende Position ein, eine Position, die in Taiwan nie verwendet wurde. Die Vorliebe für diese Haltung ist vielleicht auf die Absicht zurückzuführen, die Hunde als entspannt und unterwürfig darzustellen. Möglicherweise ist die Form der taiwanesischen Keramiken auch deswegen aufgerichtet, um den Platz im Brennofen optimal auszunutzen. Vielleicht sind es einfach unterschiedliche ästhetische Vorlieben.

 

When Collecting Becomes Breeding - Europe, 2019 © Wu Chuan-Lun

 

Wu recherchierte, führte Interviews, besuchte Züchter, um alles über die Geschichte des Deutschen Schäferhundes (Stammbäume, Zertifizierungen, seine Beziehung zur deutschen Bevölkerung und der Militärgeschichte des Landes) zu erfahren. Er ging der Frage nach, wie sich eine Hundeart zu einer Hunderasse entwickelt hat.

Ursprünglich war der deutsche Schäferhund ein einheimischer Hund, der auf dem Land beliebt war. 1899 verlieh ihm der Züchter Max von Stephanitz offiziell den Namen "Deutscher Schäferhund". Er legte den Zuchtstandard fest, um die Zucht und Ausbildung der Rasse zu kontrollieren und zu erleichtern und um die Erhaltung ihrer hervorragenden erblichen Eigenschaften zu gewährleisten. Später wurden die Schäferhunde bei Militär und Polizei eingesetzt. Seitdem sind sie eng mit der Militärgeschichte verbunden.

Während des Zweiten Weltkriegs, als sie beim Militär verschiedener Länder weit verbreitet waren, erreichte sie den Höhepunkt der Züchtung. (In Europa begann der Fanatismus für die Zucht von reinrassigen Hunden im 19. Jahrhundert, als die Hunde nicht mehr primär für die Arbeit, sondern zum Spielen und zur Gesellschaft gezüchtet wurden, sodass die Anforderungen an das Aussehen bei der Standardisierung der Rassen allmählich parallel zu denen an die Leistung liefen und diese sogar übertrafen.)

 

When Collecting Becomes Breeding - Europe, 2019 © Wu Chuan-Lun

When Collecting Becomes Breeding - Europe, 2019 © Wu Chuan-Lun

When Collecting Becomes Breeding - Europe, 2019 © Wu Chuan-Lun

 

In seiner Arbeit zeigt Wu, wie das Deutsche Reich die Zucht reinrassiger Schäferhunde zur Schaffung einer nationalen Identität (er war Symbol für Loyalität, Tapferkeit und Gehorsam) nutzte und wie das japanische Kolonialregime das Deutsche Reich kopierte und Schäferhunde z.B. als Militärhunde nach Taiwan brachte.

Als die Situation des Krieges für Japan angespannt wurde, wurden schließlich alle Deutschen Schäferhunde eingezogen, was vielen japanischen Hundehaltern in Taiwan schier das Herz brach. Die Kriegshunde wurden nach Kriegende weder zu Kriegsgefangenen, noch kehrten sie zu ihren Familien zurück. Aufgrund der Ressourcenknappheit auf dem Schlachtfeld wurden sie höchstwahrscheinlich getötet, um Pelzprodukte herzustellen, nachdem sie ihren Zweck als Militärhunde erfüllt hatten - unabhängig davon, wie loyal, mutig oder freundlich sie zu den Menschen gewesen waren.

Die Arbeit "Formation Deformation Dogformation" besteht aus vier Elementen:

den gerahmten Porträtfotos von taiwanesischen Sparbüchsen, den Porzellanhunden des deutschen und ostdeutschen Porzellanherstellers Katzhütte von 1958-1990 (nach der Wiedervereinigung von BRD und DDR schloss das Unternehmen alle Produktionslinien), den Zeichnungen von Hunden, deren Körperformen den Hindernisübungen in Agility-Wettbewerben entsprechen und den vier Skulpturen von Schäferhunden, die die Merkmale von vier Agility-Trainingsaktivitäten (Hoop, A-Frame, Wall Climbing und Weave Poles) buchstäblich verkörpern.

Die Fähigkeiten und Qualitäten der Hunde werden in ästhetischen Formen in weißem Porzellan oder auf Papier gebannt und zeigen dadurch die Unterwerfung des Hundekörpers durch den Menschen.

 

Formation Deformation Dogformation (Detail), 2018-2019 © Wu Chuan-Lun

Formation Deformation Dogformation (Detail), 2018-2019 © Wu Chuan-Lun

Formation Deformation Dogformation (Detail), 2018-2019 © Wu Chuan-Lun

Formation Deformation Dogformation (Detail), 2018-2019 © Wu Chuan-Lun

Formation Deformation Dogformation (Detail), 2018-2019 © Wu Chuan-Lun

Formation Deformation Dogformation (Detail), 2018-2019 © Wu Chuan-Lun

Portrait, 2017-18 © Wu Chuan-Lun

 

Die große weiße Schäferhund-Skulptur mit dem Titel "Allach Nr. 76" war eine von 143, die laut den Aufzeichnungen von den Allach-Werken hergestellt wurden. Solches Allacher Porzellan wurde in erster Linie für hohe NS-Funktionäre oder als Geschenke für Ehrengäste hergestellt, daneben gab es auch eine begrenzte Menge für den externen Verkauf. Nach dem Sieg über die Nazis wurden die noch verfügbaren Skulpturen und die Originalform vernichtet.

Die Porzellan Manufaktur Allach (1936-1945) wurde von Reichsführer-SS Heinrich Himmler beauftragt, langbeinige, elegant anmutende Porzellanskulpturen des Deutschen Schäferhundes (einschließlich weißer und farbiger Ausgabe) herzustellen, die die arische Ästhetik veranschaulichen sollten. Im Jahr 1939 übernahm die SS den Betrieb durch Enteignung. Die Manufaktur wurde dem zur Allgemeinen SS gehörenden Hauptamt Verwaltung und Wirtschaft unterstellt. Mit ihrem klassischen und eleganten Geschmack und ihrer technischen Überlegenheit repräsentierte sie das ästhetische Niveau und den Nationalstolz des Reiches.

Aufgrund der raschen Expansion des Unternehmens übersiedelte die Produktion von Allach bei München auf das Gelände des SS-Übungs- und Ausbildungslagers beim Konzentrationslager Dachau. Die Herstellung von Allacher Porzellan war nun eine der Arbeitsaufgaben von etwa 50 KZ-Häftlingen, Opfer der Gewaltherrschaft, im Konzentrationslager Dachau.

Die Besessenheit der Nazis von weißem Porzellan (gefertigt aus deutscher Erde) hängt mit ihrem Stolz auf die weiße Rasse zusammen. Der weiße Schäferhund war allerdings aufgrund seiner hohen Sichtbarkeit auf dem Schlachtfeld und aus Angst vor Albinismus ausgenommen.

Vielleicht fragen Sie sich, wie der Künstler zur weißen Schäferhund-Skulptur Nr.76 gekommen ist. Wu hat sie auf seiner Europareise bei einem Münchner Antiquitätenhändler entdeckt. Nach mehreren Besuchen hatte er mit dem Inhaber einen akzeptablen Preis ausgehandelt und die Skulptur verließ nach 35 Jahren das Geschäft, um seinem neuen Herrchen nach Taiwan zu folgen.

 

 

Whitest White, 2019 © Wu Chuan-Lun

Whitest White, 2019 © Wu Chuan-Lun

Purebreds (Four Shepherd Dogs), 2017 © Wu Chuan-Lun

 

Für "Purebreds - GSD, (DDR)GSD, VEO, WSSD" (2017), das sich mit Rasse und Nation auseinandersetzt, schuf der Künstler Bleistiftzeichnungen von vier Schäferhundrassen.

Obwohl sie alle vom Deutschen Schäferhund abstammen, wurden sie aus politischen und militärischen Gründen als unterschiedliche Rassen eingestuft. Der DDR-Schäferhund wurde aufgrund der Teilung während des Kalten Krieges gezüchtet. Der Osteuropäische Schäferhund entstand in Weißrussland durch die Vermischung lokaler Hunderassen mit Wölfen. Der Schäferhund mit weißem Fell wurde nach 1933 von den Nazis fälschlicherweise für einen Träger von Albino-Genen gehalten und aufgrund der eugenischen Ideologie aus der Zucht genommen, wurde aber später in den USA und der Schweiz wieder standardisiert und trägt daher den Namen Weißer Schweizer Schäferhund.

Obwohl Wus Arbeit sehr theoretisch und faktensbasiert ist, sprechen diese Zeichnungen von Zärtlichkeit und inniger Verbundenheit zu den Hunden. Vielleicht musste er viele theoretische Kilometer zurücklegen und viel historischen, politischen und sozialen Kontext zur Mensch-Schäferhund-Beziehung herausarbeiten, um seine künstlerische Beschäftigung mit den Hunden zu rechtfertigen und seine Zuneigung zu ihnen vor uns zu verbergen. Umsonst! Schauen Sie sich nur den Schäferwelpen an!

 

Pure Breed, 2017 © Wu Chuan-Lun

Pure Breed, 2017 © Wu Chuan-Lun

 

Ich habe während meiner Recherchen viel über den Deutschen Schäferhund erfahren. Obwohl die Rasse in ihren ersten Jahrzehnten mit dem deutschen Nationalismus verstrickt war, ist der Deutsche Schäferhund ironischerweise zu einem der beliebtesten Hunde weltweit und zum allerbesten Freund des Menschen - unabhängig von Geschlecht, ethnischer oder sozialer Zugehörigkeit - geworden.

Viele Bezüge, die Wu Chuan-Lun hergestellt hat - z.B. zwischen Porzellanproduktion und Hundezucht - habe ich ausgelassen, um den Blogbeitrag noch bewältigen zu können. Aber auf Wus Homepage finden sich einige ausführliche Besprechungen und weiterführende Überlegungen zu diesem Werk.

Quellen: No Man‘s Land, Taipei Fine Arts Museum, Allacher Porzellan

alle Bilder © Wu Chuan-Lun

 

18. März 2024 - 10:17

Tohuwabohu, 2022 © Henri Haake

 

Während Bruegels Hunde in "Die Jäger im Schnee" erschöpft von ihrer jagdlichen Arbeit heimkehren, springen Haakes Haustier-Hunde in "Tohuwabohu" lebhaft und wedelnd durch den Schnee. Aus dem Baumstamm wird ein Ständer mit Mistkübel. Die  Schwänze der Hunde sind so dynamisch wie in Ballas "Dinamismo di un cane al guinzaglio". Haakes moderne Übersetzung steht in Form und Inhalt zwischen Melancholie und dynamischer Darstellung.

 

Pieter Bruegel der Ältere, Die Jäger im Schnee (Detail), 1565

Giacomo Balla, Dynamism of a Dog on a Leash (Detail), 1912

 

Haakes Bilder fangen die kleinen, unbemerkten Begebenheiten des täglichen Lebens und des menschlichen und tierischen Verhaltens ein. Die verspielten, flüchtigen Versatzstücke der Realität werden aus unterschiedlichen, manchmal extremen Perspektiven heraus gesehen.

 

Ai Ai, 2017, Foto von Instagram © Henri Haake

 

Der Mensch als zentrales Element in seinen Werken wird bei der Ausübung einer alltäglichen Tätigkeit porträtiert. Doch statt ihn in den Mittelpunkt zu stellen, stellt Henri Haake ihn oft an den Rand der Leinwand und zeigt nur Teile des Körpers, wodurch es gelingt, den Blick des Rezipienten zu umgehen. Auch in "Ai, Ai" sehen wir nur die tätschelnde Hand, schleicht sich die menschliche Interaktion von den Rändern her ein. Wir wissen nicht, wer den Hund streichelt, auch der Ort des Geschehens bleibt unklar. Die Malerei ist tückisch: Die Kleidung ist ein netzartiges Gewebe, der Hintergrund scheint sichtbar durch, der Unterarm fehlt!

Henri Haakes Gemälde und Zeichnungen manifestieren ein einfaches, aber zutiefst undurchdringliches Konstrukt aus Form, Raum und Farbe - eine antagonistische Welt aus Imagination und Realität, haptischem Genuss und Freude am Menschlichen: eine Ode an die einfache Schönheit des Alltäglichen. (zit. n. Berlin Masters)

 

Mann mit Dackel, 2015, Foto von Instagram © Henri Haake

 

Sein Malprozess ist einer des Experimentierens, Zyklen von Produktion und Zerstörung, Scheitern und Übermalen wechseln einander ab. Bei näherer Betrachtung der Bildoberflächen zeigen sich unterschiedliche Farbschichten und alte Motive, die durchschimmern.

Der Künstler malt überwiegend in Öl, benutzt aber auch Sprühfarben. Die Kombination von malerischen und grafischen Elementen, ungewöhnlichen Raumanschnitten und geometrischen Mustern sind charakteristisch für die Kunst von Henri Haake, sie erzeugen Spannung und Dynamik. (vgl. André Lindhorst hier)

 

Schlemmerfilet, 2022, Foto von Instagram © Henri Haake

 

Gegenstände - Wurst- und Fleischstücke - bilden oft das Zentrum der Malerei. Erst auf den zweiten Blick sieht man die Hand des Menschen, wodurch die Szene als Situation an der Fleischtheke deutlich wird. Der Mensch ist auch als Gesicht auf der Wurst präsent. Dem Hund, der sich verbotenerweise im Geschäft befindet, läuft bereits das Wasser im Mund zusammen. In dieser Atelieransicht sehen sie auch die unterschiedlichen Bildgrößen der Arbeiten.

Unten: Der Künstler bei der Arbeit.

 

Die Hunde des Dachdeckermeisters Kallies, 2022, Foto von Instagram © Henri Haake

 

Henri Haake wurde (*1989 in Lübeck/D) studierte von 2010-2016 an der Universität der Künste Berlin und seit  2013 am Hunter College in New York City. 2016 schloss er mit dem Meisterschülerdiplom ab. Henri Haake lebt und arbeitet in Berlin. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt. Lebt und arbeitet in Berlin.

Quellen: Homepage des Künstlers, Instagram, Köppe Contemporary, Berlin Masters, Office Impart

alle Bilder © Henri Haake

 

Malerei, Zeichnung
11. März 2024 - 10:34

I believe I can fly, I believe I can touch the sky, tralalalalaaalal

 

A Dog's Dream, 2023 © Seth Becker

 

Tiere und Menschen, Landschaften und Interieurs bilden das Universum des New Yorker Malers Seth Becker. Er verfremdet vorhandene Bilder, schafft Bilder, die nur seiner Fantasie entsprungen sind oder malt Bilder, deren Grenze zwischen dem Realen und dem Imaginären fließend und durchlässig ist. Er malt Geschichten, indem er Fakten, Erinnerungen, Stimmungen und subjektive Wahrnehmung miteinander verwebt. In uns wecken seine Gemälde die Freude an der Begegnung mit dem Fremden, dem Alten und dem Unerklärlichen. Wie immer beschränkt sich meine Auswahl auf das Hundemotiv - Menschen, Hühner, Hasen, Frösche, Tiger, Pferde bleiben außen vor.

 

Tossed dog, 2022 © Seth Becker

Tightrope Walker, 2022 © Seth Becker

 

Seth Becker malt Gemälde von Hunden und Kojoten, die sich in schwierigen Situationen befinden, in denen sie gegen die Natur (Schwerkraft) antreten und Heldentum beweisen. Wenn Becker einen Hund malt, der auf einem Drahtseil klettert, wirkt das ein wenig seltsam. Wieso erscheint es uns dennoch nicht völlig unmöglich? Er hat zwei Drahtseile zur Verfügung und tastet sich sicher vor, balanciert sein Gleichgewicht aus. Hunde sind geschickt, das wissen wir. Vielleicht wartet ein Leckerli am Ende des Hochseilaktes. Aufgrund der einfachen Integrität des Bildes (ruhige, "ehrliche" Umgebung) und des Hundes (dem Mut, etwas zu tun, auch wenn es schwerfällt) setzen wir unseren Unglauben außer Kraft.

Der kleine Held unten klettert wohl auch gegen seine Natur an. Vielleicht hat er ein Eichkätzchen auf den Telefonmasten huschen gesehen - und plötzlich wird er sich der Höhe und seines Mutes bewusst!

 

A Dog Climbing A Telephone Pole Over The Hudson, 2023 © Seth Becker

A dog listening to a canary sing , 2022 © Seth Becker

 

Auch geheimnisvollen Elemente der Sprache und des Klangs tanzen in Beckers Gemälden umher. Wie sie an den verwortakelten (für Nicht-Wiener: krakeligen, aus der Form geratenen) Noten erkennen können, singt der Kanarienvogel aus voller Brust und jault der Hund aus voller Kehle - Baying The Blues!

 

Baying The Blues, 2023 © Seth Becker

A dog reading poems at a picnic table, 2023  © Seth Becker

 

In ihrer Bereitschaft, der Phantasie freien Lauf zu lassen, sind Beckers Werke ein leises Plädoyer für das Wunder und das Staunen. Hunde fliegen nicht nur wie Superhundehelden durch die Lüfte, sie lesen auch Bücher, ja Gedichte! Auf einem Picknicktisch! (Seth Becker arbeitet tagsüber als Bibliothekar. In den Abendstunden und bis in die Nacht hinein malt er in einem Atelier, das er auf dem Dachboden seines Hauses hat).

 

A blind dog hears a wasp nest, 2022 © Seth Becker

Coyote stalking a turkey, 2022 © Seth Becker

 

Becker sammelt alte Bilder, Fotos und Postkarten aus der Zeit vor 1940, vor allem von so genannten "Real Photo Postcards", die Schnappschüsse auf Postkartenpapier reproduzieren. Dabei ist er auf der Suche nach dem seltsamen Bild, das in seine Malerei einfließen und die Basis für seine Komposition bilden kann.

Oft arbeitet er auf älteren Gemälden, verwendet farbige Untergründe und setzt sein Ausgangsmaterial in einer rätselhaften, vielschichtigen Weise zusammen. Vergangenheit und Gegenwart, Fakten und Fiktion gehen derart eine Verbindung ein. Jedes dieser kleinen gegenständlichen Ölgemälde besticht durch Sensibilität, Eleganz und formale Sicherheit.

Einige Gemälde sind dick mit Impasto, andere mit einem Spachtel gemalt, und wieder andere weisen eine Textur auf, die von der Verwendung eines lockeren Pinselstrichs, einer intensiven Pinselführung herrührt. Man spürt in seinem Werk die unendlichen Möglichkeiten, die dem Schwung eines Pinsels entspringen und die Vielfalt seines (neo)expressionistischen Darstellungspotenzials.

Abstrahieren sie Kojoten und Truthahn - und sie sehen ein informelles Bild, ein Bild des abstrakten Expressionismus (noch deutlicher beim Hintergrund der "Two Black Dogs" weiter unten).

Unten sind wir eher beim späten Monet in dessen japanischen Garten! Niemals verlässt Seth Becker das figurative Paradigma zugunsten einer gänzlichen Abstraktion.

 

A Dog on the Frozen Bank of Lake Erie, 2023 © Seth Becker

Sleeping dog with blood trail, 2022 © Seth Becker

 

Beckers Gemälde sind hochgradig durchdachte Farb- und Farbtonkompositionen. Schauen Sie nur beim schlafenden Hund wie der Schnee zart rosa, violett und rotbraun schimmert. Oder die monochrome aufgetragene Farbe beim Hund im seichten Wasser, hier scheint der Künstler das Impasto sogar mit einer Spachtel oder einem Messer erzeugt zu haben.

 

Dog wading in shallow water, 2022 © Seth Becker

Hunter In The Fog, 2022 © Seth Becker

 

Kein Nebel versteckt die Schmach des Hundes, er hat die Ente nicht gefunden! Sieht er nicht aus, als ließe er schuldbewusst den Kopf und Ohren hängen? Gebückt, gedrückt, von Melancholie durchdrungen?

 

Hound with parting clouds, 2022 © Seth Becker

 

Die Wolken verziehen sich, der Schrecken bleibt!

 

Harlequin, 2022 © Seth Becker

Two black dogs (Zeke and Molly), 2021 © Seth Becker

 

Seth Beckers kleine Gemälde basieren nicht nur auf Fotos und Reproduktionen, sondern auch auf direkter Beobachtung seiner Wohnumgebung (Wappinger's Falls, einer Stadt im Bundesstaat New York) und Autobiografischem (Spaziergänge mit seinem Hund).

Noch vor einigen Jahren war sein angeleinter Hund Toby ein wiederkehrendes Motiv des Künstlers. Obwohl sich seine Malerei im Laufe der Jahre verändert hat - er wurde literarischer, erzählerischer, sanfter - blieb sein Bewusstsein für die Materialität der Farbe und ihre unterschiedlichen Reaktionen auf den Bildträger konstant. Besonders bei diesen "alten" Bildern seines Hundes sind großflächige, aufgeraute Untermalungen zu sehen.

 

Two Dogs walking, 2019 © Seth Becker

Lavender shadows, 2021 © Seth Becker

Toby barking at his shadow, 2020 © Seth Becker

Walking the dog in the suburbs, 2021 © Seth Becker

 

Man kann immer wieder Verbindungen zwischen seinen Werken bezüglich Stil, kunstgeschichtlicher Inspiration und Thema finden, Seth Becker möchte sie vor allem als autonome Bilder verstanden wissen:

 

“I love the idea of people seeing my paintings in a book, I want people to see each work one at a time and to be in the world that exists in each one.” (zit. n. artnet)

 

Und schließt man das Buch, bilden die vielen Welten doch wieder einen Becker'schen Kosmos!

 

Portrait of Seth Becker. Courtesy the artist and Venus Over Manhattan, New York

 

Seth Becker (*1987 in Queens/New York/USA) lebt und arbeitet in Wappingers Falls, NY. Er erwarb seinen BA am Marymount Manhattan College, seinen MFA an der New York Studio School of Drawing, Painting and Sculpture und seinen MLS am Queens College, CUNY, Flushing, NY.

Sollten Sie sich vor dem 9. März 2024 zufällig in New York aufhalten, können Sie Seth Beckers Einzelausstellung "A Boy‘s Head" in der Galerie Venus Over Manhattan besuchen. Ich jedenfalls, würde mir das nicht entgehen lassen!

Quellen: Instagram, Two Coats Of Paint, Artnet, Venus Over Manhattan, Pamela Salesbury Gallery

alle Bilder © Seth Becker

 

Ausstellung, Malerei
4. März 2024 - 10:24

Bevor ich einen Blogtext schreibe, versuche ich zumeist die Bilder zu ordnen. Doch obwohl in Zohar Fraimans Serie "Die Bösen dürfen nicht weinen" überall ein oder mehrere Wölfe oder Mischwesen von Wolf und Frau vorkommen und die Bilder sehr narrativen Charakter besitzen, erzählen sie keine chronologische Geschichte, folgen keiner logischen oder zwingenden Anordnung. Die Gemälde kreisen lediglich um Erwachsenwerden, Besessenheit und Sexualität.

Die Künstlerin kombiniert Wölfe, Mädchen, Bräute, in verschiedenen Kulissen, kargen und trostlosen Landschaften und Zusammenhängen. Sie sind Elemente einer Geschichte, die Kontinuität - aber nicht Linearität - erzeugen. Charaktere erscheinen oder verschwinden, je nachdem, welche Rolle sie in der nicht erzählten Geschichte spielen, eine Figur kann sich verändern, verwandeln, mutieren oder sich an eine neue Umgebung anpassen. Jedes Bild ist Teil einer größeren Serie, die assoziativ entsteht, die Erzählung selbst bleibt obskur und fragmentarisch.

Meistens treten die Wölfe als Mischwesen auf: Als junge Wolfsschulmädchen in Uniform, die noch ganz flauschiges Wolfsfell besitzen ("Virgins", 2016), als erwachsene Wolfsfrauen mit gut sichtbaren Reißzähnen ("Virgins II", 2017) oder als Gruppe von Wolfsfrauen um eine Wolfsbraut. Das Brautbild trägt den Titel: "Smells Like Kathleen Spirit", 2017. Handelt es sich dabei nur um eine Verballhornung von Nirvanas stilbildenden Song "Smells Like Teen Spirit"? Oder verweist Kathleen (also Katherina) noch auf etwas anderes? Ich habe bei Rembrandt eine heilige Katherina ("die kleine jüdische Braut") gefunden, vielleicht war sie Namenspatin.

Die junge Braut ist eine willensstarke Wolfshybridin, die die Kontrolle über die Welt übernimmt, zumindest die Kontrolle über die Männerwelt. Könnte das Skelett ein getöteter Wolfshybrid sein? Zohar Fraiman zeigt uns ein Spiel von Dominanz und Unterwerfung, bei dem die Figuren von einem Bild zum nächsten ihre sozialen und sexuellen Rollen wechseln. Es ist dieser ständige Rollenwechsel, der jede symbolische Interpretation in Zohar Fraimans Werk verhindert.

 

Virgins, 2016 © Zohar Fraiman

Virgins II, 2017 © Zohar Fraiman

Smells Like Kathleen Spirit, 2017 © Zohar Fraiman

Rembrandt, Die heilige Katharina (die kleine jüdische Braut), o.J.© Herzog An

Maria Johanna, 2017 © Zohar Faiman

 

Etwa 2013 begann Zohar Fraiman mit einer Serie von Gemälden, die unter weißem Tuch verborgene Figuren zeigen. Sie beziehen sich auf einen rituellen Gegenstand im Judentum, den Tallit, einen Gebetsschal, den die Männer tragen.

 

I want you to want me, 2017 © Zohar Faiman

 

Der Wolf steht In den Gemälden nicht für sich, sondern etwas anderes, z.B. symbolisiert er verbotene Sehnsüchte und unerfüllte Leidenschaften oder steht stellvertretend für die Legendengestalt Dibbuk des jüdischen Volksglaubens. Ein Dibbuk ist ein bösartiger Geist, die ruhelose Seele eines Verstorbenen. Er/Sie kann von einem Menschen Besitz ergreifen, durch ihn sprechen, handeln oder ihn eine andere krankhafte Persönlichkeit annehmen lassen.

 

Kissing at the Golden Gate, 2016 © Zohar Faiman

Mr. Magic, 2016 © Zohar Faiman

Dimmed Bananas Only Cost 13€ © Zohar Faiman

 

Ihre filigran und zart gemalten Ölgemälde erzählen sehr konkrete und teils irritierende Geschichten, die die Themen Besessenheit und Tabu verhandeln. Der filigrane Malstil steht im Gegensatz zu den irritierenden Themen, wobei die klassische Ästhetik ihrer Bilder das Betrachten der expliziten Szenen erleichtert. Die Figuren sind in kargen Landschaften inszeniert, doch Figur und Landschaft finden nicht zueinander, letztere ist nur Kulisse für die rätselhafte Erzählung.

Zohar Fraiman malt nicht nur auf Leinwand, sondern auch auf selbstgezimmerten Holzkästen/Altären. Damit erweitert sie die Rezeptionsmöglichkeiten um einen partizipativen Moment. Der Betrachtende muss aktiv werden, um das Verborgene freizulegen.

So verbirgt sich beispielsweise in dem Gemälde "Aber die Dunkelheit hält alles an sich" (2016) hinter einer sternenklaren Nacht ein Wolf, der eine Banane isst, während auf der Außenseite von "Tree of Life" (2017) ein Wolf in Richtung eines Baumes läuft. Die Innenseite zeigt uns, dass er eine Banane vom Baum gepflückt hat, mit der er zu einer Frau läuft, die sich selbst befriedigt.

Hier bemerkt man nichts mehr von der geheimnisvollen Welt der Teufel, Bräute und verschleierten Figuren. Nichts ist mehr verborgen. Die Frau hat ihr Leben und ihr Vergnügen selbst in die Hand genommen. Die Entfaltung und Selbstbestimmtheit sind geglückt.

Aber die Dunkelheit hält alles an sich, 2016 © Zohar Faiman

Tree of Life, 2017 © Zohar Faiman

Things Are About To Get Splendid, 2015 © Zohar Faiman Sweetest Taboo, 2017 © Zohar Faiman

 

Von verträumt und subtil bis hin zu sinister und obskur und provokant reichen die Welten, die Zohar Fraiman kreiert und die zwischen Traum, Wahn und Realität changieren. Dass sie auch in der Welt des Humors zuhause ist, zeigt "Rich Plate", das sie bei der Ausstellung "Vanitas Fair" gezeigt hat.

 

Rich Plate, 2017 © Zohar Faiman

 

Während sich Zohar Fraiman in den gezeigten Werken auf weibliche Aspekte von religiösen und sozialen Zeremonien konzentriert und ambivalente künstlerischen Positionen zu Religion, Tradition und Tabu verhandelt, untersucht sie in ihrem gegenwärtiges Werk in ihren collageartigen Gemälden den Einfluss der Digitalisierung auf gängige Geschlechterstereotypen.

Zohar Fraiman (*1987 in Jerusalem/Israel) wuchs in einer religiösen Familie in der Gemeinde Hachmonaiim auf. Sie begann ihr Studium der Malerei 2003 an der School of the Museum of Fine Arts in Boston, Massachusetts, USA. Von 2005 bis 2009 besuchte sie die Meisterklasse der privaten Jerusalem Studio School in Israel. Ab 2011 studierte sie an der Universität der Künste Berlin, wo sie von 2013 bis 2015 als Meisterschülerin bei Burkhard Held ihr Studium abschloss.  Zohar Fraiman lebt und arbeitet in Berlin, Deutschland. Sie stellt regelmäßig in Gruppen- und Einzelausstellungen international aus.

 

We Can See Your Pocket Knife, 2016 © Zohar Faiman

 

Quellen: Galerie Russi Klenner Berlin, Galerie Priska Pasquer Köln, Lachenmann Art

alle Bilder © Zohar Fraiman

 

Malerei
26. Februar 2024 - 11:20

Ausstellungsansicht Beuerberger Kunstpavillon, Foto Thomas Dashuber

 

Eine Prozession aus Gipsfiguren bevölkert einen Gartenpavillon. Der Esel "Ferdinand" trägt Kerzen auf seinem Rücken, die hell zu brennen scheinen. Vor ihm steht ein anmutiges Mädchen mit Elefantenbeinen. Davor "Rapunzel", umrundet von ihren zu Boden fallenden Zöpfen. Das Ende des Umzugs bildet das Mädchen "Eloise", das einen Wolf wie eine erlegte Beute würgend am Hals gepackt hat: Mensch und Tier in jener "Perlenkette einer Traumwelt", wie die Künstlerin Elke Härtel sagt, "einer surrealen Prozession" verknüpfen sich zu einer Geschichte. (vgl. Erzbistum München)

Die meist weiblichen Figuren von Elke Härtel stammen aus den Tiefen der Träume, inneren Bildwelten und aus literarischen Vorstellungswelten: Märchen, Mythen und religiösen Erzählungen.

 

Ausstellungsansicht Beuerberger Kunstpavillon, Foto Thomas Dashuber

 

Handwerklich beeindruckend präzise gearbeitet, aus Ton modelliert, in Silikon abgeformt und in Gips gegossen, präsentieren sich Mensch und Tier realistisch und anatomisch perfekt, trotzdem ist ihnen auch etwas Surreales, Bizarres oder Absurdes eigen wie die Kerzen auf dem Esel oder die Elefantenbeine des Mädchens. Sind sie Sinnbild für die Unvollkommenheit des weiblichen Körpers? Sind sie Teil einer Metamorphose zu einem Mischwesen?

 

Ausstellungsansicht Beuerberger Kunstpavillon, Foto Thomas Dashuber

 

Uns interessiert natürlich "Eloise", die einen Wolf eng umgriffen hält. Doch es ist keine zärtliche Umarmung. Vielmehr packt das lebensgroße Mädchen den Wolf wie eine gejagte Beute am Hals. Seine Augen sind geöffnet und sein Körper hängt schlaff und besiegt in ihren kleinen Händen. Was ist mit dem festen Griff um den Hals des Tieres gemeint? Wird hier eine literarische Vorlage dramatisch neu interpretiert? Wenn ja, welche? Ist es ein modernes Rotkäppchen, dem Elke Härtel eine märchenhafte Kraft verleiht; das sie mit weiblichem Selbstbewusstsein und Schaffenskraft visualisiert? Oder gehen Eloise und der Wolf auf Heloise und Abaelard zurück?

Besonders bei dieser Skulptur ist die Fragilität des weißen Gipses verblüffend, den die Künstlerin wohl ganz bewusst wählt, um ihrer martialischen Botschaft eine zarte, vielleicht ambivalente Hülle zu verleihen.

"Eloise" mit dem Wolf ist geheimnisvoll und lässt keine eindeutige Interpretation zu. Unser assoziatives Zutun ist gefordert, um die Skulptur zu vervollständigen.

 

Eloise (Detail), Beuerberger Kunstpavillon, Foto Harry Wolfsbauer

Eloise (Detail), 2013 © Elke Härtel

 

Die Bilder stammen von unterschiedlichen Ausstellungen: Loft8, Wien, Beuerberger Kunstpavillon, Alter Botanischer Garten, München.

 

Eloise, Alter Botanischer Garten München

Eloise, Alter Botanischer Garten München

 

Elke Härtel (*1978 in Erding/Altenerding/D) studierte ab 2002 an der Akademie der Bildenden Künste, München und schloss 2007 mit dem Diplom ab.

alle Bilder © Elke Härtel

 

Installation, Skulptur
21. Februar 2024 - 10:18

Honor Titus, Tom Hanks at Lassens, 2019 © Honor Titus

 

Das Bild des Hundes im Auto fand ich mit seiner auffälligen Komposition so interessant, dass ich es Ihnen zeigen wollte. Leider habe ich nur ein weiters Bild dieses aufstrebenden Künstlers mit Hundebegleitung gefunden. Trotzdem ein kleiner Blogeintrag:

Der amerikanische Künstler Honor Titus wuchs als Sohn von Andres "Dres" Vargas Titus auf, einem Mitglied der bahnbrechenden Rap-Gruppe Black Sheep. Ich selbst habe um 1990 Hip-Hop-Platten gesammelt und besitze sogar deren erstes Album "A Wolf in Sheep's Clothing". Gestern habe ich es seit ungefähr 30 Jahren zum ersten Mal wieder gespielt.

Auch Honor Titus hat seine künstlerische Karriere als Musiker, als Mitglied der Punkband Cerebral Ballzy, begonnen und sich erst in den letzten Jahren seiner ruhigen, fast meditativen Malerei zugewandt. Er kam 2016 zur Malerei, nachdem er Raymond Pettibon in New York kennengelernt, sich mit ihm angefreundet und ihm assistiert hatte. Dann zog er nach Los Angeles und hatte bereits 2020 - ohne formale Ausbildung - seine erste Einzelausstellung in den ehemaligen Chinatown-Studios des Künstlers Henry Taylor.

 

Honor Titus, Tom Hanks at Lassens, Detail, 2019 © Honor Titus

 

Titus zeigt seine eleganten und anmutigen Personen bei Freizeitaktivitäten (Tanzen, Tennisspielen), beim Chillen und in fragmentierte Straßenszenen, die eine Reihe von Einflüssen widerspiegeln, darunter die visuelle Sprache der Jazzmusik, der Literatur und der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts.

Seine Genrebilder wirken oft aus der Zeit gefallen oder verweisen mit ihren Accessoires auf die Vergangenheit. Seine Arbeit spielt mit Traditionen und erinnert an die raffinierten Porträts amerikanischer Vorgänger wie Alex Katz, die sich mit der Ästhetik der Werbung und des modernen Stadtlebens auseinandersetzten.

Es gibt aber auch ein Gefühl des Verlustes in den Werken, eine Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die nicht mehr existiert. Seine von einem Gefühl der Nostalgie durchdrungene Figuren in minimalistischen Stadtlandschaften spiegeln auch Isolation und Einsamkeit wider, das sich aus der Anonymität des städtischen Umfelds ergibt.

Daneben spielt auch die Klassenzugehörigkeit in Titus' Kunst eine wichtige Rolle. Seine People of Color gehören der Oberschicht an und fordern die Betrachtenden heraus, deren Auslöschung aus den Erzählungen der Elitekultur zu überdenken.

Honor Titus sagt über sein Werk: “I see my paintings as an oasis and as a place transcendent of ideas of race and stigma. I want to depict an all-inclusive romance for life” (zit.n. Vogue). "Ich sehe meine Bilder als eine Oase und als einen Ort, der die Vorstellungen von Rasse und Stigmatisierung überwindet. Ich möchte eine allumfassende Romanze für das Leben darstellen“ (übersetzt mit DeepL).

 

Honor Titus, Chevalier, 2021 © Honor Titus

 

Titus' Gemälde stellen seine Figuren vor halb abstrahierte, mit Farbblöcken versehene Kompositionen, die sie als Mittelpunkt ihrer eigenen privaten Welten positionieren. Zusätzlich ist der Einsatz von stilisierten Mustern und dekorativen Elementen ein Merkmal seiner Malerei. Dazu gibt die Homepage der Galerie Timothy Taylor einen guten Einblick.

Im Bild "Chevalier" zeigt sich, welch zentrale Rolle Kleidung und Accessoires einer vergangenen Ära für ihn spielen, seine Figuren haben alle einen ausgeprägten Sinn für Stil. Gleichzeitig wird deutlich, wie er das traditionelle Verhältnis zwischen Vorder-, Mittel- und Hintergrund und die Gesetze der Perspektive verlässt.

 

Honor Titus, Foto Gia Coppola
Honor Titus, Foto Gia Coppola

 

Honor Titus (*1989, Brooklyn, NY/USA) lebt und arbeitet in Los Angeles.

Quelle: Galerie Timothy Taylor

alle Bilder © Honor Titus

 

Malerei
2. Februar 2024 - 15:47

Cleaner, 2020 © Lin May Saeed

 

An Traurigkeit nicht zu überbieten ist diese dystopische Skulptur. "Cleaner/Reiniger" hat Lin May Saeed ihr Werk genannt. Es zeigt eine menschliche sitzende Figur mit Maske und Schutzanzug, die ein kleines Pferd streichelt, ihm den Rücken massiert. Unbeholfen, mit schützenden Fäustlingen geht der zärtliche Vorgang vonstatten. Das Pferdchen, ob tot oder lebendig, fühlt keine Körperwärme des Berührenden.

Obwohl weit entfernt von einer naturalistischen Darstellung macht die Skulptur ob ihrer Zärtlichkeit fassungslos. Zeigt sie die tödliche Hoffnungslosigkeit für die Tiere oder gibt sie Hoffnung auf ein geändertes verbindendes Tier-Mensch-Verhältnis?

 

Milo, 2023, Installationsansicht Georg Kolbe Museum @ Lin May Saeed, Foto Enric

 

Der trauernde Hund "Milo" mit gesenktem Kopf und gebückter Haltung aus weiß bemalter Bronze bildet die bewegende Begrüßungsskulptur zu Lin May Saeeds erster musealen Einzelausstellung in Deutschland, die noch bis zum 25. Februar 2024 im Georg-Kolbe-Museum zu sehen ist. Ihm zur Seite gestellt sind Arbeiten der Bildhauerin Renée Sintenis, womit ein interessanter Dialog entsteht. Die deutsch-irakische Künstlerin selbst ist nur wenige Tage vor der Eröffnung im Alter von 50 Jahren an den Folgen eines Gehirntumors verstorben. Schon der Ausstellungstitel "Im Paradies fällt der Schnee langsam“ verweist auf das sensible, melancholische und poetische Werk der Künstlerin, in dem Tiere ihre Würde wiedererlangen. Dementsprechend haben sich die Styroportiere in der zentralen Halle aus ihren Käfigen befreit.

 

Installationsansicht Georg Kolbe Museum © Lin May Saeed

 

Auch das "Pangolin" steht auf seiner Transportkiste, die ihm nun als Sockel dient. Es gehört zu den meist geschmuggelten Tieren und ist vom Aussterben bedroht. Anders als Marmor oder Bronze wird die Skulptur aus biologisch nicht abbaubarem Styropor seine lebenden Artgenossen überdauern. Sie steht zugleich als Mahnung für die Auswirkungen auf die Umwelt im Zeitalter des Anthropozäns.

 

Pangolin, 2020 © Lin May Saeed, Foto The Clark Art Institute

 

Viele Arbeiten wirken leicht und unbeschwert. Leicht sind sie tatsächlich, da fast alle Skulpturen aus Styroporresten gefertigt sind, die die Künstlerin auf Baustellen und Müll fand oder aus Restbeständen erhielt. Die Leichtigkeit des Materials machte es ihr möglich, in einem lebensgroßen Maßstab zu arbeiten, damit die Betrachtenden auf Augenhöhe mit einer tierischen - oder menschlichen - Figur sind. Die Leichtigkeit des Materials gab ihr aber auch Unabhängigkeit und Selbstermächtigung in der Männerdomäne der Bildhauerei, da es auch ohne starke physische Kraft einfach zu bearbeiten ist.

 

Sie arbeitet so lange mit dem Material, bis es antwortet, bis sich der Arbeitsprozess verselbständigt.

 

"Most animals have fur, feathers, scales or an exoskeleton, and depicting that sculpturally is a challenge. Every living thing moves almost constantly, and motion blur and vividness go together. Likewise, there is a blurriness when working with Styrofoam because of the materiality. Styrofoam is, first of all, block material and on closer inspection it has a smallest visible unit, namely small spheres. The fact that the naked eye can see the smallest unit I feel has a poetic quality. I like to imagine that they are atoms. I look for the productive interplay of these two blurs, the granularity of the material and the living things that emerge from it. And perhaps most crucially: I understand my works not as objects, but as subjects." (zit.n.The New Institute)

„Die meisten Tiere haben ein Fell, Federn, Schuppen oder ein Exoskelett, und das bildhauerisch darzustellen, ist eine Herausforderung. Jedes Lebewesen bewegt sich fast ständig, und Bewegungsunschärfe und Lebendigkeit gehen Hand in Hand. Auch bei der Arbeit mit Styropor gibt es aufgrund der Materialität eine Unschärfe. Styropor ist in erster Linie ein Blockmaterial und hat bei näherer Betrachtung eine kleinste sichtbare Einheit, nämlich kleine Kugeln. Die Tatsache, dass das bloße Auge die kleinste Einheit sehen kann, hat für mich eine poetische Qualität. Ich stelle mir gerne vor, dass es Atome sind. Ich suche nach dem produktiven Zusammenspiel dieser beiden Unschärfen, der Körnigkeit des Materials und den daraus entstehenden Lebewesen. Und vielleicht das Entscheidende: Ich verstehe meine Arbeiten nicht als Objekte, sondern als Subjekte.“ (übersetzt mit DeepL)

 

In den Werken von Lin May Saeed geht es um die Beziehung zwischen Mensch und Tier, um Tierrechte, Artensterben, Massentierhaltung. Doch anstatt nur das Leiden und den Tod der Tiere darzustellen, schuf die Künstlerin "Werke der Hoffnung". Es sind Werke, mit Gesten der Versöhnung. In einem Interview sagte sie dazu:

 

“What would be the alternative to peaceful images? I rarely reproduce the real, structural form of violence in which animals live and die behind closed doors. But I have respect for the artists who do. I would describe the kinder part of my artistic practice as works of hope. I have been working on the series The Liberation of Animals from their Cages since 2006.”

„Was wäre die Alternative zu friedlichen Bildern? Ich gebe selten die reale, strukturelle Form der Gewalt wieder, in der Tiere hinter verschlossenen Türen leben und sterben. Aber ich habe Respekt vor den Künstlern, die das tun. Den freundlicheren Teil meiner künstlerischen Praxis würde ich als Werke der Hoffnung bezeichnen. Seit 2006 arbeite ich an der Serie Die Befreiung der Tiere aus ihren Käfigen." (übersetzt mit DeepL)

 

Liberation of Animals from their Cages IV, 2008 © Lin May Saeed

 

Seit 2006 arbeitete Lin May Saeed an der Serie "The Liberation of Animals from their Cages”. Diese von hinten beleuchtete Arbeit thematisiert die Mitte der 1970er Jahre entstandene Tierbefreiungsbewegung. Sie basiert auf Vorzeichnungen, die auf Papier übertragen und dann ausgeschnitten und mit farbigem Transparentpapier ergänzt wurden.

 

St.Jerome and the Lion, 2016 © Lin May Saeed

 

Liberation of Animals from the Cages XVIII, Olifant Gate, 2016 © Lin May Saeed

Liberation of Animals from their Cages XX, 2017 © Lin May Saeed

Liberation of Animals from their Cages XXI, 2018 © Lin May Saeed

 

Die Stahltüren sind ebenfalls Teil von Lin May Seeds Befreiungsserie "Liberation of Animals from their Cages". Während der heilige Hieronymus den Dorn aus der Pfote des Löwen entfernt und Tierbefreier die Ketten (der Käfige) durchschneiden, hat der Hummer das Werkzeug, um sich selbst zu befreien, indem er das Metallgitter mit seinen Scheren aufschneidet.

Die harmonischen und zurückhaltenden Reliefs spielen in Lin May Saeeds Werk eine wichtige Rolle. Diese Zwischenform aus Skulptur und Malerei, Fläche und Raum zieht sich durch ihr gesamtes Werk.

 

Liberation of Animals from the Cages III, 2008 © Lin May Saeed

Liberation of Animals from the Cages VI, Asylum, 2009 © Lin May Saaed

 

Das Relief "Mureen/Lion School" ist in vier Ebenen unterteilt: Die oberste zeigt eine Löwin, die mit der Löwin auf der darunterliegenden Ebene mit dem poetischen Satz "Im Paradies fallen die Schneeflocken langsam" auf Arabisch ins Gespräch kommt und Inspiration für den Titel der Ausstellung im Georg Kolbe Museum war. Die Künstlerin verwendet immer wieder arabische Schrift in ihren Werken als Verweis auf die Familie ihres Vaters, der aus dem Irak stammte.

 

Mureen/Lion School, 2016 © Lin May Saeed

Teneen Albaher Relief, 2018 © Lin My Saeed, Foto Wolfgang Günzel

 

Lin May Saeed glaubte nicht, dass Kunst in einem moralischen und sozialen Vakuum funktioniert, sondern dass Kunst immer einen Raum der Bedeutung eröffnet. Von Anfang an hatten sie Gespräche mit Tierbefreiungsaktivisten, das Studium der Tierrechtsliteratur und aktuelle Debatten zum ausbeuterischen Tier-Mensch-Verhältnis beeinflusst. Ihre Sicht auf dieses Thema bestimmte ihre grundsätzlich konzeptionelle künstlerische Praxis. In dieser Hinsicht kamen Kunst und Politik in Ihrer Arbeit zusammen.

Doch im Gegensatz zu ihrem politischen Aktivismus, dessen Botschaft sie laut vorbrachte, verwendete Saeed in ihrer Kunst eine scheinbar naive, den Tieren entsprechende unschuldige Sprache, um Empathie zu wecken.

In einem Interview mit Arterritory sprach sie ausführlich darüber, dass ihre Fokussierung auf Tiere wahrscheinlich einer der Faktoren war, die sie lange daran gehindert hatten, ernst genommen zu werden. Sie reflektierte darüber, wieso die Einfühlung in Tiere in der Kunst selten ist, wieso sie mit ihrer friedlichen Kunst deeskalierend wirken will und wieso Tierrechtskunst kein weibliches, sondern ein politisches Thema ist.

 

Lyn May Saeed, Foto von arterritory

 

Lin May Saeed (*1973 in Würzburg/D, †2023 in Berlin/D) studierte von 1995-2001 an der Kunstakademie Düsseldorf unter anderem bei Tony Cragg. Trotz einiger Stipendien wurde ihr Werk erst in den letzten Jahren - im Rahmen des Diskurses über den Klimawandel - vom Kunstbetrieb vermehrt beachtet. Sie war ihrer Zeit voraus.

Quellen: Arterritory (Interview), Art Of Change (Interview), The New Institute (Interview), Galerie Nicoloas Krupp (Bildmaterial), Galerie Jacky Strenz, Galerie Chris Sharp, The Clark, Contemporary Art Library (Ausstellungsübersicht), Berlin Art Week

alle Bilder © Lin May Saeed

14. Dezember 2023 - 10:07

Heute zeige ich ihnen Zeichnungen und Fotografien eines Künstlers, die bereits 2013 entstanden sind. Die Serie "Pathetic Fallacy" ist eine Sammlung von Graphitzeichnungen auf geschichtetem Mylar (einer transparenten flexiblen Polyesterfolie) und großformatigen, digital bearbeiteten Fotografien.

Die Zeichnungen erzeugen eine irritierende Spannung zwischen Mensch und Tier. Anthony Goicolea fragt, wie nahe sich Tiere und Menschen sind und welche Bedürfnisse sie teilen. Dabei greift der Künstler Themen wie Sexualität, Schwangerschaft und Symbiose über die Grenzen der Spezies hinweg auf.

In "Osmosis" dringen Tier und Mensch ineinander ein, in "Pregnant Pause" ist ein Mensch mit einem Hund schwanger, "Symbiotic" beschreibt eine Beziehung mit gegenseitigem Nutzen für beide Partner. "Specimen" zeigt ein Probepräparat.

 

Osmosis, 2011 © Anthony Goicolea

Entangled, 2011 © Anthony Goicolea

Pregnant Pause, 2013  © Anthony Goicolea

Wolf in Sheep’s Clothing II, 2011 © Anthony Goicolea

Symbiotic, 2013 © Anthony Goicolea

Specimen, 2013 © Anthony Goicolea

 

In this new group of photographs and drawings, nature takes on anthropomorphic characteristics. A new, uneasy equilibrium is created as human and animal bodies merge, trees grow hair and pump blood, flies multiply into tornadoes and wild dogs settle in the ruins of an abandoned home. Anthony Goicolea’s version of pathetic fallacy becomes an atmospheric elegy of passing time, transition, loss and decay. In a new hybridized world of man and nature, nothing is permanent and nothing is safe. Humans, plants and animals have cross-pollinated; they have merged, evolved and adopted different features from each other. Objects acquire pathos and empathy while the decomposition of material things reflects the world in flux. ( zit. n. Artist's Statement)

 

In dieser neuen Gruppe von Fotografien und Zeichnungen nimmt die Natur anthropomorphe Züge an. Es entsteht ein neues, unbehagliches Gleichgewicht, wenn menschliche und tierische Körper miteinander verschmelzen, (...) und wilde Hunde sich in den Ruinen eines verlassenen Hauses niederlassen (...). In einer neuen, hybridisierten Welt von Mensch und Natur ist nichts von Dauer und nichts sicher. Menschen, Pflanzen und Tiere haben sich gegenseitig befruchtet, sie sind verschmolzen, haben sich weiterentwickelt und unterschiedliche Eigenschaften voneinander übernommen. Die Objekte gewinnen an Pathos und Empathie, während der Zerfall der materiellen Dinge die Welt im Wandel widerspiegelt. (übersetzt mit DeepL)

Goicolea begann sein fotografisches Werk mit inszenierten und digital manipulierten Fotografien/Selbstporträts, die von Themen wie Identität und Selbsterforschung handelten. In diesen Porträts erschuf er humorvolle sowie erschreckende Szenarien, in denen er oft Ereignisse der Kindheit und Adoleszenz durchspielte.

Die späteren "Pathetic Fallacy"-Fotografien von eindringlichen Landschaften aus verträumten Wäldern und Industriebrachen sind von Emotionen (Traurigkeit, Einsamkeit oder das Gefühl einer verlorenen Vergangenheit) und dem Eindruck durchdrungen, dass diese Orte nicht wirklich existieren.

 

Guardians, 2007 © Anthony Goicolea

 

Spontan erinnerte mich die Fotografie "Guardians" oben von der Komposition her an C.D. Friedrichs "Die gescheiterte Hoffnung", obwohl diese Assoziation einem direkten Vergleich der Kunstwerke nicht standhielt.

 

Dead Tree Forest, 2005 © Anthony Goicolea

 

Seine Fotografien sind vorgeblich realistisch, aber jede Szene vereint Elemente, die subtile Unstimmigkeiten erzeugen. Goicolea versucht eine starke Erzählung im Rahmen einer fiktiven Welt zu vermitteln, die unbehagliche Gefühle evoziert, unbehagliche, mehrdeutige Momente schafft und ein Dazwischen oder einen Übergang beschreibt.

 

Growth Spurt, 2010 © Anthony Goicolea

Black House, 2010 © Anthony Goicolea

 

Goicolea schafft erzählerische Tableaus unter Verwendung einer Vielzahl unterschiedlicher Medien. Fotografie, Zeichnung auf Mylar, Malerei, Video und großformatige Installationen interagieren in einzelnen Werken miteinander.

Katze(!) und Hund unten zeigen Ihnen, dass Anthony Goicolea auch ein dramatischer Maler ist.

 

Cat Ear, 2019 © Anthony Goicolea

Dog, 2019 © Anthony Goicolea

 

Anthony Goicolea (* 1971 in Atlanta/Georgia/USA) ist ein kubanisch-amerikanischer Künstler, der seinen BFA in Malerei, Fotografie und Bildhauerei an der University of Georgia und seinen MFA in Pratt erworben hat. Er lebt und arbeitet in Brooklyn/ New York City.

Quellen: Ronmandos, The Artist Bestiary, Artsuite

alle Bilder © Anthony Giocolea

 

Fotografie, Malerei, Zeichnung
4. Dezember 2023 - 10:24

Suzanne Valadon, Ma Fiere a Quatre Ans, 1905

 

Obwohl Suzanne Valadons Arbeit schon früh von Kritikern, Institutionen und Künstlern anerkannt wurde, geriet ihr Werk lange in Vergessenheit und war nur wenigen Interessierten bekannt. Oft wurde auch nur ihr Leben als Teil des "Trio Infernal" von Montmartre, das sie mit ihrem Sohn Maurice Utrillo und ihrem Lebensgefährten André Utter bildete, rezipiert und verstellte den Blick auf diese ungewöhnliche, von den Avantgarden unabhängige Künstlerin. Auch ihre leidenschaftlichen Beziehungen zu einigen der wichtigsten Figuren der Bohème verhinderten, dass man sich mit ihrem Werk näher beschäftigte.

Suzanne Valadon (1865-1938) wurde als Tochter einer Wäscherin im französischen Bessines-sur-Gartempe geboren. Später zog sie mit ihrer Mutter nach Paris - in den damals gerade neu entstandenen 18. Stadtbezirk Montmartre. Aus ärmlichen Verhältnissen kommend und ohne ordentliche Schulausbildung schlug sich Valadon als Serviererin und Gemüseverkäuferin durch und heuerte sogar als Artistin bei einem Zirkus an, den sie als Fünfzehnjährige nach einem Unfall am Trapez verlassen musste.

Das Zirkus- und das Künstlermilieu traf sich in den Cabarets und Nachtlokalen des Montmartre. Überall Varietés, verruchte Bistros, in dem die Künstler dem Absinth-Trinken frönten und nebenbei die Kunst-Welt erneuerten und eroberten. Es war die Geburtsstunde der "Moderne" und Suzanne Valadon gehörte dazu.

Valadon begann, als Modell für Künstler zu arbeiten, zum Beispiel für Auguste Renoir oder Henri Toulouse-Lautrec. Dabei nutzt sie ihre Sitzungen als Modell als Unterrichtsstunden, um hier und da eine Geste, eine Berührung, eine Art zu zeichnen aufzuschnappen. Valadon, gleichzeitig Modell und Künstlerin, nahm schließlich ihren Bleistift zur Hand und bewies ihr Talent als freie Erbin ihrer älteren Kollegen, ohne je offiziell deren Schülerin gewesen zu sein.

Das untere "M. Paul Mousis mit Hund"  stammt aus dem Jahr 1891, damals war Suzanne erst 16 Jahre alt. Der kompakte Hundekörper hat etwas Terrierhaftes. Diesem Hundetyp bleibt sie ein Leben lang treu.

 

Suzanne Valadon, M. Paul Mousis et son chien, 1891

Suzanne Valadon, 5 études du chien crapouillot

Suzanne Valadon, Chien endormi sur un coussin, 1921

Suzanne Valadon, Chien endormi sur un coussin, 1923

Suzanne Valadon, L'arbi et la misse, 1927

 

In dieser Zeit entstanden Grafiken, aber auch Portraits, Akte, Landschaften und Stillleben in ihrem Atelier. Immer figürlich, aber im Geist der aufkommenden Moderne, inspiriert und unter Einfluss von Toulouse-Lautrec, Renoir oder Degas. Letzterer hatte Suzanne Valadon besonders gefördert. Er bringt ihr die Drucktechniken auf seiner eigenen Presse bei und tritt für sie als Fürsprecher unter seinen Kollegen auf. Degas sollte später zu Valadons bedeutendsten Sammlern gehören.

Valadon war eine der ersten Frauen, die in den Salon der Société Nationale des Beaux-Arts aufgenommen wurden, 1933 trat sie der Société des Femmes Artistes Modernes bei. Nach ihrem Tod am 7. April 1938 durch einen plötzlichen Schlaganfall hinterließ sie ein Werk von fast 500 Gemälden und 300 Arbeiten auf Papier.

 

Suzanne Valadon, La dame au petit chien, 1917

Suzanne Valadon, Großmutter und Enkel, um 1910

 

Das Gemälde mit dem Titel "Großmutter und Enkel" (1910) zeigt ihren Sohn Maurice Utrillo und ihre Mutter in einem beengten, klaustrophobischen Interieur, das lediglich aus einer aufdringliche Blumentapete besteht, die an die dekorativen Hintergründe von Paul Gauguin erinnert. Valadons Mutter war die Hauptbezugsperson für den jungen Maurice, der mit psychischen Erkrankungen und Alkoholismus kämpfte. Obwohl sie miteinander verschmolzen sind, ist die Spannung zwischen den beiden Dargestellten deutlich spürbar. Hoffnungslosigkeit und Resignation liegen im Blick der alten Frau. Während Maurice nicht weiß, wie er ihr näher kommen kann, legt ihr der Hund tröstend seine Pfote in den Schoß.

 

Suzanne Valadon, Andre Utter and His Dogs, 1932

 

Der rechte Hund sitzt auf dem Fuß von André Utter und zeigt so seine Zuneigung in diesem melancholischen Bild. Es dürften dieselben Hunde sein, die sich auf dem unteren Foto an Suzanne Valadon schmiegen.

 

Suzanne Valadon et ses chiens, um 1930

 

Suzanne Valadon hat der Kunstgeschichte ein faszinierendes und thematisch zeitgenössisches Werk hinterlassen. Kubismus und abstrakte Kunst waren in Ansätzen vorhanden, wenngleich sie sich weiterhin leidenschaftlich für die Darstellung der Realität einsetzte.

Aktuelle Informationen über die Rezeption ihr Werk und dessen Rezeption finden sie auf der Ausstellungsseite vom Museum Centre Pompidou-Metz und hier.

weitere Quellen: Art In Words, FemBio, Monopol

 

Malerei, Zeichnung