4. April 2021 - 14:16

Der japanische Fotograf Yamamoto Masao gruppiert seine Arbeiten in Serien - A Box of Ku, Nakazora, Kawa=Flow, Shizuka=Cleanse, Small Things in Silence, Tori (Vogel) -, die aber keine Projekte mit klaren Anfängen und Enden darstellen. Jede Fotografie ist als (flexibler, variabler) Teil eines größeren Zusammenhangs, aber auch als isolierter Ausschnitt gültig.

Die Fotos der einzelnen Serien bilden keine chronologische Geschichte, sondern die Erzählung wird durch die Art der Präsentation vom Künstler erzeugt. Dabei können die Installationen und Geschichten immer andere sein, je nachdem wo und in welchem Kontext Yamamoto ausstellt. Yamamoto arrangiert seine kleinen ungerahmten Fotografien an den Ausstellungswänden, wählt eine intuitiv als Ausgangspunkt aus und entwickelt daraus eine Geschichte in Bildern. Aus der Ferne betrachtet bilden diese Arrangements einen Fluss, einen Flow um den Ausstellungsraum.

 

I construct a story by hanging several small photos. I don’t do it chronologically. Sometimes I start with the end, sometimes with the middle, I never know where I will start. I attach one, then another, and then a third. Even I have no idea of the story it tells before I start hanging. It’s only in the theoretic hanging that the sense appears to me. (Yamamoto Masao zit.n. LensCulture)

 

Nakazora Installationsansicht, 2002 © Craig Krull Gallery

Installationsansicht, 2006 © Mizuma Art Gallery

 

Die Möglichkeiten zu ordnen und zu arrangieren sind grenzenlos, da jede leichte Verschiebung die Poesie dieser "visuellen Haikus" ändert. Doch nicht nur Yamamoto kann unendlich viele Kombinationen finden, auch der Ausstellungsbesucher, der die Fotoinstallation abschreitet, folgt seinen eigenen Assoziationen. Tausende individuelle Erzählungen entstehen auf diese Weise.

Jede Serie hat also ihre Installationen, ihre Publikationen und ihren sich entwickelnden Katalog mit nummerierten Drucken. Der Künstler gibt seinen Fotografien selten Titel. Die meisten sind bloß zu Identifikationszwecken nummeriert.

 

A Box of Ku #0214, 1993 © Masao Yamamoto

 

Jeder der Silbergelatineabzüge der Serien "A Box of Ku" und "Nakazora" ist etwas Einzigartiges und Kostbares in Bezug auf seine Größe, individuelle Verarbeitung, Tonung und Abnutzung:

Yamamoto gibt seinen Abzügen ein altes Aussehen, verleiht ihnen künstliche Patina, indem er sie mit Tee beträufelt, sie mit seinen Tränen verschmiert, sie zart koloriert oder auf ihnen malt. Er trägt sie mit sich herum, reibt sie in seinen Händen und schiebt sie in seine Taschen, bis sie zerknittert, eselsohrig, zerkratzt, zerrissen und abgenutzt aussehen. All diese manuellen Prozesse tragen nicht nur dazu bei nuancierte fotografische Objekte zu erschaffen, sondern auch die Grenze zwischen Malerei und Fotografie auf- und die Fotografie aus dem Kontext der Serienproduktion herauszulösen. Das Sichtbar-Machen seiner individuellen Handschrift durch den vermeintlichen Altersprozess erleichtert die Auseinandersetzung mit der Fotografie als taktilem Medium und die Rahmenlosigkeit verringert ebenso die räumliche Distanz und erhöht den emotionalen Zugang für die Betrachterin.

Doch noch etwas anderes will Masao Yamamoto mit dem Alterungsprozess erreichen: Wir sollen die Beziehungen zwischen Fotografie und Erinnerung neu untersuchen.

 

As you can see, my photos are small and seem old. In fact, I work so that they’re like that. I could wait 30 years before using them, but that’s impossible. So, I must age them. I take them out with me on walks, I rub them with my hands, this is what gives me my desired expression. This is called the process of forgetting or the production of memory. Because in old photos the memories are completely manipulated and it’s this that interests me and this is the reason that I do this work. (Yamamoto Masao zit.n. LensCulture)

 

Ich bin mir nicht sicher, was Yamamoto meint: Prozess des Vergessens oder die Produktion von Erinnerung? Wir alle vergessen so viel! Es macht mich sprachlos traurig, wie viel ich von meinen verstorbenen Hunden schon vergessen habe. Konserviert ein Foto die Erinnerung, die ich habe oder ersetzt es die Erinnerung, die ich nicht mehr habe? Erinnern wir uns womöglich nicht "richtig" und produzieren ständig selbst-manipulierte Erinnerungen? Konstruieren wir die Erinnerung als immer neu zu erzählende Geschichte, da wir uns nicht erinnern, sondern nur an die Erinnerung erinnern…?

 

A Box of Ku #0719 © Masao Yamamoto

 

Die meisten Serien erstrecken sich über mehrere Jahre, Etappen entlang eines Werkflusses, der durch das Leben mäandert.

"A Box of Ku" betont Intimität, Zeit und Erinnerung. Manchmal hängt Yamamoto die Abzüge nicht assemblagearitg an die Wände, sondern versammelt sie in einer Kiste und fordert die Besucher zum Stöbern auf. Wie eine Erinnerung können die kleinen Silbergelatineabzüge in der Hand oder zwischen den Fingerspitzen gehalten, an die Augen und Nase geführt werden, um besser berührt, betrachtet und gerochen zu werden.

 

Nakazora #1275 © Masoa Yamamoto
Der Makake, ein Altweltaffe, aus der Nakazora-Serie ist für Sofie S.

 

Die Makaken suchen im Winter in kühleren Regionen gerne heiße Quellen auf, die im vulkanreichen Japan recht häufig sind. Um ihre Körpertemperatur zu regulieren, halten sie sich manchmal stundenlang in diesen warmen Gewässern auf. Das Foto zeigt einen dieser Schnee-Affen, der sich, in Dreiviertelansicht und bis zur Brust im Wasser weilend, darin spiegelt. Mit geschlossenen Augen, anmutig, würdevoll, gelassen, befindet er sich im Zustand des Nakazora:

 

(...) in water and in air, in the steamy warmth of the hot spring and in the wintry mountain cold, between sleep and wakefulness, between the gravity of her body and the ethereal shimmer of her reflection (Sara Crowe zit.n.photocurios)

 

Nakazora beschreibt verschiedene Zustände des Dazwischen, der Unentschlossenheit. der Leere, des Schwebens, eine Grenzzone zwischen Himmel und Erde, "wo die Vögel fliegen" (vgl. photocurious) und die Makaken baden.

 

Nakazora #811 © Masao Yamamoto

 

"Kawa=Flow" - der Titel der Serie bezieht sich auf die Reise von der Gegenwart in die Zukunft, von einer konkreten Situation zu dem Unbekannten, das vor uns liegt - bricht mit dem Ausstellungsformat der kleinen ungerahmten Fotos und setzt einzeln montierte und gerahmte an seine Stelle. Die ungealterten Fotografien dieser Serie werden in der regelmäßigen, konventionellen Art und Weise von Galerie-Fotoausstellungen gehängt. Sie sind auch größer als die handtellergroßen Abzüge früherer Projekte, und während die charakteristischen Elemente seines Stils präsent bleiben - Motive aus der Natur, starke Kontraste, monochromatische Feinheiten und geometrische Präzision -, wird die Auseinandersetzung zwischen Bewegung und Stillstand und damit die Erfahrung von Zeit in jedem Bild neu behandelt.

"Kawa-Flow" wird bestimmt von der Idee der Fotografie als Haiku - jedes kleine Bild eine exquisite Aufnahme eines Moments, jeder Moment ein winziger Teil des endlosen Flusses des Lebens, unserer unaufhörlichen Bewegung von einem Jetzt zu einem Jetzt zu einem Jetzt. (vgl. photocurios). Die Bilder verehren eine gleichzeitige und ewige Gegenwart.

 

KAWA=FLOW  #1613, 2012 © Masao Yamamoto

 

Yamamotos Fotografie ist durchdrungen sowohl von Ästhetik als auch von Sensibilität. Beides hat ihren Ursprung im Zen-Buddhismus, Shintoismus, Daoismus und der japanischen künstlerischen Tradition. Sie nimmt auf auf spirituelle und ästhetische Konzepte wie Leere, Wabi-Sabi, Haiku, Yûgen Bezug:

An die ästhetische Tradition des Wabi-Sabi, in der Objekte für ihre Unvollkommenheit, Verwitterung und Authentizität geschätzt werden, erinnert die beschleunigte Alterung der Fotografien. An japanische Haiku, kurze Gedichte, erinnern die Fotografien, da sie ihre Kraft ebenso aus einfachen, direkten, alltäglichen Bildern aus der Natur beziehen. Das traditionelle ästhetische Konzept des Yûgen, mit dunkel, tief und mysteriös nur unzulänglich übersetzt, schätzt das Angedeutete und Verborgene höher als das offen zu Tage Liegende und klar Exponierte. Yûgen ist damit vornehmlich eine Stimmung, die sich für jene Andeutungen eines Transzendenten offen hält.

 

#4(dog on river), 1993 © Masao Yamamoto

 

Yamamoto zeigt eine zarte, flüchtige, harmonische Welt, die für jeden sichtbar ist, aber nicht von jedem wahrgenommen wird. Die meisten seiner Motive entnimmt er der Natur - Landschaften, Vögel, Bäume, Blüten, Insekten, Tiere, Blumen, Blätter, Felsen, Gewässer, Wolken, Vogelnester. Er ist ein wandernder Fotograf, der absichtslos - ohne Vorstellung und Ziel -, aber mit offenem Geist beobachtet und fotografiert. Er ist ein Entdeckender und Staunender.

Ich habe lange nach einem Wort gesucht, das seine Fotos bzw. das sie auslösende Gefühl am besten ausdrückt: Sie werden als spirituell, mystisch, harmonisch, raffiniert, subtil, kraftvoll beschrieben. Doch das passende Wort ist beruhigend, Frieden und Aussöhnung erzeugend. Yamamoto selbst hat es vorgeschlagen:

 

For me a good photo is one that soothes. Makes us feel kind, gentle. A photo that gives us courage, that reminds us of good memories, that makes people happy. (Yamamoto Masao zit.n. LensCulture)

 

© Masao Yamamoto

 

Masao Yamamoto wurde 1957 in der kleinen, halbländlichen Stadt Gamagori in der japanischen Präfektur Aichi geboren. Er studierte Bildende Kunst und Ölmalerei bei dem Künstler Goro Saito, bevor er sich 1980, in seinen 20ern, der Fotografie zuwandte, dennoch bleibt sein malerischer Hintergrund in seinen Werken offensichtlich. Er verwendet einen schwarz-weißen 35-mm-Film. Davon produziert er in seiner eigenen Dunkelkammer Silbergelatine-Abzüge, von denen er 20-40 Versionen ausgewählter Bilder anfertigt.

Wie meditative Objekte setzten sich die minimalen Motive mit ihrem oftmals transzendenten Ton der aktuellen Bilderflut des digitalen Zeitalters und der formalen Monumentalität und Farbigkeit der zeitgenössischen künstlerischen Fotografie entgegen.

 

Nakazora #1051, 2002 © Masao Yamamoto

 

Yamamotos Abzüge nehmen die Aura alter Familienschnappschüsse an, die Jahrzehnte in Schubladen, Alben und Dachböden verbracht haben und durch ihr altes Aussehen zum Nachdenken anregen - über Erinnerung, den Lauf der Zeit, den Fluss des Lebens.

Vielleicht werden die zwei Fotos meiner verstorbenen Hunde Lucy und Rocco, die ich in meiner Geldbörse bei mir trage, einmal so alt aussehen wie Yamamotos Abzüge. Dreißig, vierzig Jahre aufbewahrt - dog-eared - und nicht künstlich, sondern an der Hunde statt mit mir gealtert.

 

Quellen: LensCulture, Jackson Fine Art, Yancey Richardson, Galerie Stefan Vogdt, Atlas Gallery, Medium u.a.

alle Fotos mit Hunden © Masao Yamamoto

 

Fotografie
29. März 2021 - 10:24

Im Magazin Monopol war kürzlich eine Aufstellung der am teuersten lebenden Künstler zu lesen. Platz 9 nimmt Zeng Fanzhis "The Last Supper" mit 23,3 Millionen US-Dollar ein.

 

Das teuerste jemals versteigerte Gemälde ist der "Salvator Mundi" von (vielleicht?!) Leonardo da Vinci für 450 Millionen. Die Hommage an Leonardos Abendmahl vom chinesischen Maler Zheng Fanzhi erzielte nur ungefähr ein Zwanzigstel dieser Summe. Allerdings ist das immer noch ziemlich teuer für einen Tisch mit maskierten jungen Kommunisten, die ein Wassermelonenmassaker veranstalten. (zit.n.Monopol)

 

The Last Supper, 2001 © Zeng Fanzhi

 

Zeng Fanzhi? Tief in meiner Erinnerung vergraben, fiel mir ein Ordner mit Arbeiten seiner Masken-Serie ein, den ich vor Jahren angelegt hatte. Zu einem Blogeintrag kam es nicht, mir waren seine Bilder zutiefst unangenehm. Ohne näher darüber reflektiert zu haben, empfand ich wahrscheinlich deren unterschwellige Gewalt und psychologische Spannung. Nachdem ich mich inzwischen in Fanzhis Werk eingelesen habe, sehe ich auch die Männer hinter den Masken anders, empfinde ich nahezu Mitgefühl mit ihnen, gleichzeitig habe ich meine Abneigung verloren, die Arbeiten sind für mich "schöner" geworden.

Fanzhis Werk ist sehr vielfältig und stilistisch uneinheitlich. Ich beschränke mich auf seine Langzeitserie Mask (1994-2004), da bei dieser Serie manchmal ein Hund dabei ist.

 

mask series © Zeng Fanzhi

 

Wir sehen Männer am Strand oder in nicht oder nur karg möblierten Innenräumen. Die Settings sind sauber, glatt und poppig eingefärbt, aber auch flach und unnatürlich, sie spiegeln die polierte Erscheinung der Figuren wider. Der Kontrast zwischen diesen überschwänglich leuchtenden Farben und den traurigen angstbesetzten Figuren erzeugt Spannung und Unbehagen.

Köpfe und Hände sind übergroß, die Gesichter tragen Masken, die an Stelle der Figuren Gefühle zeigen. Zu bedrohlich scheint die Entblößung der eigenen Emotionen, die Offenbarung des wahren Selbst zu sein. Die Masken stehen dementsprechend sowohl für An- als auch Abwesenheit der Emotion.

Die unbeholfenen Hände sind expressiv gemalt und erinnern teilweise an rohes Fleisch, an ihnen wird die Verletzlichkeit der Protagonisten deutlich. Die Augen blicken leer, passiv, doch erwartungsvoll auf den Betrachter.

 

mask series © Zeng Fanzhi

 

Die jungen Männer sind elegant gekleidet, die Haare sorgfältig frisiert: Eleganz als Rüstung und Schutz vor einer unsicheren Welt. Anfang und Mitte der 1990er Jahre, in einer Zeit der rasanten Modernisierung Chinas, stieg die Zahl der wohlhabenden jungen Städter stark an. Sie lebten in urbanen Zusammenhängen, ohne ihren Platz gefunden zu haben.

 

mask series © Zeng Fanzhi

 

Der Hund könnte auch eine Katze oder eine Tasche sein, er ist nicht mehr als ein modisches  Accessoire, ein Ausstattungsdetail. Nicht seine Existenz als Hund wird verhandelt, er ist lediglich Projektionsfläche der konsumorientierten aufsteigenden Gesellschaft. Auch als tierischer Partner spiegelt er nur die Gefühle des Menschen: Der traurige Mann im ersten Bild ist in Tränen aufgelöst, auch der Hund weint um seinetwillen.

 

mask series © Zeng Fanzhi

mask series © Zeng Fanzhi

mask series © Zeng Fanzhi

 

Die Masken sind Metaphern für Verlust und Entfremdung. Sie verbergen den Schmerz und die Agonie hinter einem sozial akzeptablen Gesicht, beschönigen die chinesischen Gesellschaft, in der niemand ohne Maske auftritt.

Gleichzeitig üben seine Maskenbilder Kritik am Sozialistischen Realismus als einzig erlaubtem figurativen Stil, der nur idealisierte Bilder von glücklichen und gesunden Bürgern zeigte.

Neben der politischen und psychologischen Dimension hat die Serie, mit der sich Fanzhi zehn Jahre auseinandersetzte, auch eine persönliche Komponente: 1993 zieht er von Wuhan nach Peking. Bereits 1994 beginnt er mit der Maskenserie als Reaktion auf Gefühle der Einsamkeit und auf die Verwerfungen, die ein Leben in existenzieller Sorge in einer oberflächlichen urbanen Umwelt mit sich bringt. Mit der Maskenserie visualisiert er eine Zeit des persönlichen Umbruchs sowie eine Zeit beschleunigter gesellschaftlicher Veränderungen.

 

mask series © Zeng Fanzhi

 

Zeng Fanzhi (*1964 in Wuhan/China) schließt sein Studium der Malerei am Hubei Institute of Fine Arts in Wuhan im Jahr 1991 ab. Während seiner frühen Ausbildung in Wuhan beschäftigt er sich mit westlicher Kunst, Philosophie und der New-Wave-Art-Bewegung, die nach Jahren des Sozialistischen Realismus zeitgenössischen Impulsen der globalen Kunstwelt nachspürte und die chinesische Kunst internationalisierte. Auch Zeng Fanzhi sucht nach einer neuen, konzeptuelleren Bildsprache, er räumt dem Konzept bis heute Vorrang gegenüber dem Bild ein.

Seit über drei Jahrzehnten übt Zeng Fanzhi nun mit seiner Kunst Kritik am zeitgenössischen chinesischen Leben und stellt gleichzeitig einen Dialog zwischen östlichen und westlichen künstlerischen Traditionen her. Er lebt und arbeitet in Peking.

 

mask series © Zeng Fanzhi

 

Zu den Porträts, die Fanzhi im Laufe seiner Karriere entwickelt hat, gehören auch "unmaskierte" Bildnisse von Freunden und von ihm geschätzter Künstler. Einer davon war Lucian Freud. Fanzhi malte ihn nach Fotos, um den lange Bewunderten seinen Respekt zu erweisen.

 

Lucian Freud, 2017 © Zeng Fanzhi Studio

 

Und weil dieses Gemälde mit Hund so bezaubernd ist … eine "Zugabe" mit Fuchs!

 

Artist Series Lucian Freud, 2011 © Zeng Fanzhi Studio

 

Quellen:

Hauser & Wirth, Widewalls, GagosianThe Art Story, Sotheby's

alle Bilder © Zeng Fanzhi Studio

 

Malerei
22. März 2021 - 10:35

© Douglas Wirls

 

Was auf den ersten Blick wie ein Stachelschwein aussieht, ist ein Hund, der sich schüttelt.

 

© Douglas Wirls

 

Rhythmisch wälzen sich die Hunde. Mit schwungvoller Gestik gezeichnet, schütteln sie ihr Fell trocken. Zeichnungen im Fluss bilden Reigen an Hundekörpern, sich gegenseitig belauernd. Sie umkreisen einander abwartend, im Wissen darum, dass die Stimmung gleich umschlagen kann. Es kann laut werden und stürmisch zugehen. Der verwischte Hintergrund, aus dem Stellen frei radiert wurden, verstärkt die Dynamik des Geschehens. Mit fließenden Linien in Kohle, Rötel, Sepia sind seine Arbeiten kraftvoll, wild, dynamisch, aber auch lyrisch zart. Traditionell ist Douglas Wirls in seiner Kenntnis der Anatomie und in seiner genauen Naturbeobachtung.

 

© Douglas Wirls

© Douglas Wirls

© Douglas Wirls

© Douglas Wirls

 

Die Körper füllen den Raum aus, es gibt nichts daneben oder dahinter, und doch gehen die Zeichnungen weit über Hundestudien hinaus. Es gelingt dem Künstler über die Körpersprache der Hunde deren Interaktion und Kommunikation genau zu beschreiben: das gleichzeitige Stattfinden von abwarten, beobachten, auffordern, wegdrängen – ein Ritual des Kräftemessens. Mit Intensität und Sensibilität fängt er die emotionale Essenz einer Situation ein.

 

© Douglas Wirls

 

Der Hund unten gefällt mir besonders gut, obwohl seine Proportionen nicht richtig wirken: Der Kopf - vielleicht ein Dobermann - gehört zu einem sehr kompakten Körper, der Hals erscheint zu kurz. Vielleicht ist der Hund aber auch nur in die Jahre gekommen. Die verwischte Kohle bei der intimen, bis in die verborgenen Einzelheiten vordringenden Darstellung verstärkt einen unbeholfenen, unsicheren Eindruck.

 

© Douglas Wirls

 

Douglas Wirls (*1951 in Cleveland, Ohio/USA) hat in Philadelphia am Tyler College of Fine Art studiert. Er lebt seit mehreren Jahrzehnten in New York, wo er Grafik und Malerei  am Pratt Institute in Brooklyn unterrichtet.

alle Bilder © Douglas Wirls

 

Zeichnung
15. März 2021 - 11:17

To Live © Jong Seok Yoon

 

Es ist nicht viel über diesen koreanischen Künstler im deutsch- und englischsprachigen Internet zu finden und die Einträge sind schon mehrere Jahre alt. Trotzdem möchte ich Ihnen die sympathischen und ansprechenden Arbeiten von Yoon Jong Seok zeigen. Ich werde mich allerdings nicht zu Interpretationen versteigen, da die Malereien für mich nicht mehr als das sind, was sie darstellen: gemalte Kleidungsstücke aus unterschiedlichen Farben und Mustern - Blumen, Punkte, Streifen, Rhomben -, die gefaltet werden und etwas Neues entstehen lassen. Die Faltungen verwandeln den Stoff in Pistolen, Sofas, Schmetterlinge, aber auch in Hunde. Darüber hinaus sind die in Hundeform gefalteten Hemden und T-Shirts akribisch aus Punkten zusammengesetzt.

 

To Live © Jong Seok Yoon

Dog, 2009 © Jong Seok Yoon

© Jong Seok Yoon

Net Hanging Down The Concealed Side, 2008 © Jong Seok Yoon

Flowing Lightness-Dalmatian, Polka-dot Clothes, 2007 © Jong Seok Yoon

Rival- Barcelona, 2009 © Jong Seok Yoon

Rival - Manchester United, 2009 © Jong Seok Yoon

Same Bloodline, 2010 © Jong Seok Yoon

 

Jong Seok Yoon (*1970) lebt und arbeitet in der Republik Korea.

 

alle Bilder © Jong Seok Yoon

 

Malerei
8. März 2021 - 10:53

Schon vor Jahren ist mir Bärbel Rothhaar mit ihren Bienenprojekten im Internet begegnet. Da diese nicht zu meinem Blogthema passten, blieb es bei der Speicherung eines Links. Manchmal stöbere ich in meiner viele Jahre alten Linksammlung und spüre einzelnen KünstlerInnen nach. Und siehe da: Bei Bärbel Rothhaar habe ich Patti gefunden!

 

Patti, 2015 © Bärbel Rothhaar

 

Das Bild ist aus vordergründig disparaten Elementen zusammengesetzt: formlosen wässrigen Flächen und lasierenden Flächen, die Schatten bilden; konzentrischen Linien, die auf eine Wasserlacke hindeuten; dem Hund und den Pflanzen. Die Wörter, es handelt sich um botanische Begriffe, verweisen auf das Dargestellte: Google erklärt es näher. Eustoma grandiflorum ist der großblütige Prärieenzian, früher als Lisianthus bekannt. Stamina (Mz.), die Staubblätter, sind die Pollen erzeugenden Organe bei zwittrigen oder rein männlichen Blüten der Bedecktsamer. Das Stigma (die Narbe) dient der Aufnahme des männlichen Pollen. Der Stylus (der Griffel) in einer Blüte ist der Teil eines Fruchtblatts oder Stempels, der die Narbe trägt.

Die gelbgrünen Formen sind die Pollen, hoch ästhetische Gebilde, die seit der Erfindung des Mikroskops nicht nur WissenschaftlerInnen, sondern auch KünstlerInnen immer wieder faszinieren.

Patti, ein Whippet, kratzt mit der Pfote im Wasser. Malerischer Zufall und wissenschaftliche Genauigkeit ergänzen einander in dieser auf Braun- und Grüntöne beschränkten Arbeit. Auch wenn ein Teil des Bildrätsels gelöst ist, bleibt die Kombination der Teile in dieser Malerei doch geheimnisvoll und unergründlich.

Bärbel Rothhaar arbeitet oft in Serien, wobei ihre Themen (Natur, Naturwissenschaften und Ökologie) bei unterschiedlichsten Kunstprojekten vorkommen und Querverbindungen mit anderen Werken, wie Skulpturen oder Performances, eingehen.

So bildeten Aspekte von Symbiosen zwischen Lebewesen 2015 den Ausgangspunkt eines Kunstprojekts im Botanischen Museum in Berlin. Auch hier richtete sich der Blick der Künstlerin auf die Pollen der Pflanzen - auf Ihre Rolle in der Symbiose zwischen Pflanzen- und Tierwelt und natürlich auf die enorm wichtige Rolle der Bienen bei der Bestäubung.

 

Patti, 2020 © Bärbel Rothhaar

 

In einem perspektivisch uneindeutigen Raum sitzt Patti auf einem nach vorne geneigten roten Hocker, von dem sie eigentlich herunterrutschen müsste. Den oberen Bildraum nimmt eine Art Brücke ein. Die Verbindung von Innen und Außen bleibt unklar. Auch hier wirkt die Zusammenfügung von Gegensätzen - ornamentalen und informellen Bildteilen - charmant und anziehend.

Unten ein kleines Bild (30 x 40 cm) eines Kojoten, der in einer flachen Kuhle liegt: Drückt er schlafend die bunten Blumen zusammen oder wurde er, der Verstorbene, mit Blumen bekränzt? Ich tendiere zu Letzterem. Vielleicht wurde er von einem Auto angefahren und blieb leblos am Straßenrand liegen. Und die Künstlerin hat ihn malerisch zur Ruhe gebettet.

 

Kojote, 2020 © Bärbel Rothhaar

 

Inzwischen kenne ich die Erzählung hinter "Kojote, 2020". Er lebte in der kalifornischen Mojave-Wüste und war einer der zahlreichen Kojoten in dieser Gegend: Ein räudiges, krankes Tier, das von Nathini, der Tochter der Künstlerin, versorgt wurde. Sie gab ihm gelegentlich Wasser und Futter, das mit Medikamenten gegen Räude gemischt war.

 

An einem Ostersonntag ging das Leben des Kojoten aber dann doch zu Ende und er hat sich dafür die Terrasse ihres Hauses ausgesucht, um dort in der Nacht zu sterben. Das Foto mit den Wüstenblumen ist bei der Kojoten-Beerdigung entstanden und es hat mich so sehr berührt, dass ich es malen wollte. (Bärbel Rothhaar)

 

Beides, sowohl das Bild als auch die Geschichte, berührt auch mich. Ein Kojote, der so großes Vertrauen zu einem Menschen hat, dass er dessen Terrasse als Rückzugsort zum Sterben wählt. Eine Frau, die nicht gleichgültig gegen das Leid eines Tieres ist, ihm im Leben hilft und auch nach dessen Tod seine Würde achtet, indem sie ihn mit Zuneigung zu Grabe trägt. Und eine Künstlerin, die die Erinnerung an "Kojote" festhält.

Hunde kommen auch in Bärbel Rothhaars Arbeiten auf Papier vor, in Mischtechnik oder mit Tusche.

 

Quiet Hour, 2020 © Bärbel Rothhaar

Hund, 2018 © Bärbel Rothhaar

 

Weniger emotional herausfordernd ist eine Serie von Aquarellen auf A4-Papier, die ab Sommer 2020 enstand und Mensch-Tier-Metamorphosen zum Inhalt hat, darunter vier mit Hunden. Der Mensch ist schon so lange mit dem Hund verbunden, dass die beiden Spezies eine große Nähe und gegenseitiges Verstehen entwickelt haben. Ja es kommt sogar zu physiognomisch frappierenden Ähnlichkeiten. Das bringt die Künstlerin mit viel Humor und genauer Beobachtung z.B. bei "Dog Lady" oder "Bulldog Man" zum Ausdruck. Hätte Letzterer andere Ohren, würde ich meinen Onkel erkennen!

 

Bulldog Man, 2020 © Bärbel Rothhaar

Dog Dancer, 2020 © Bärbel Rothhaar

Dog Lady, 2020 © Bärbel Rothhaar

Hundemetamorphose, 2020 © Bärbel Rothhaar

 

 

Bärbel Rothhaar widmet sich in ihrer Arbeit als bildende Künstlerin experimentellen Kunstformen, wie beispielsweise prozesshaften Arbeiten im Bereich Kunst und Natur, u.a. Kunstprojekten mit Bienenvölkern. Sie zeichnet (analog und digital), malt und beschäftigt sich mit Enkaustik, der Malerei mit erhitztem, pigmentiertem Wachs.

In den Jahren der Auseinandersetzung mit Bienen spielten für Bärbel Rothhaar viele Faktoren und Ereignisse eine Rolle, die den künstlerischen Prozess motiviert und in Gang gehalten haben:

Zuerst beschäftigte sie sich mit der überaus vielfältigen Bienensymbolik in allen Kulturen. Ab 1999 begann sie mit lebenden Bienenvölkern zu experimentieren. Sie setzte unterschiedliche Objekte - Zeichnungen, Knochen, Metallobjekte - in die Bienenkästen ein und ließ sie von den Bienen verändern und überbauen. Es ging bei dieser "Wildwuchs" genannten Kooperation um den Dialog ihrer eigenen künstlerischen Intention mit natürlichen Prozessen, die nicht immer kontrollierbar waren.

Einige Methoden ihrer Arbeit näherten sich fast der naturwissenschaftlichen Forschung an, ohne das Gleiche zu sein. Dazu gehören Fragestellungen als Motivation und Ausgangspunkt der Arbeit, Interesse am Prozessualen, aber auch Versuchsreihen und Selbstversuche. In "Sleeping in a Beehive" lebte die Künstlerin einige Wochen mit einem Bienenvolk in ihrer Wohnung.

Näheres über Bärbel Rothhaars Bienenprojekte können Sie auf ihrem Blog oder auf ihrer Homepage nachlesen.

Bärbel Rothhaar (*1957 in Rockenhausen/D) hat Bildende Kunst an der Universität der Künste Berlin studiert und anschließend am Whitney Museum Independent Study Program in New York teilgenommen. Sie erhielt zahlreiche Stipendien, u.a. von der Studienstiftung des Deutschen Volkes, dem DAAD, der Karl-Hofer-Gesellschaft Berlin sowie dem Hanse-Wissenschaftskolleg. Seit 1980 stellt sie im In- und Ausland aus und führt Projekte durch.

 

alle Bilder © Bärbel Rothhaar

 

Malerei, Skulptur, Zeichnung
25. Februar 2021 - 11:33

Nach und nach werden immer mehr Künstlerinnen wiederentdeckt und mit Werkschauen präsentiert. Eine davon ist Ottilie W. Roederstein, deren strenge Selbstporträts mein Interesse weckten. Da sie auch ein paar Hunde gemalt hat, Grund genug, sie im Blog zu zeigen.

Ottilie W. Roederstein (*1859 in Zürich/Schweiz, gest. 1937 in Hofheim am Taunus/D) widmete ihr ganzes Leben der Kunst.

 

Mein ganzes Interesse war Arbeit und Arbeit. Ihr widmete ich mein ganzes Sein. (Ottilie W. Roederstein)

 

Als freischaffende Malerin gehörte sie zu den erfolgreichsten Künstlerinnen ihrer Zeit. Sie fand nicht nur in der Schweiz und Deutschland großen Zuspruch und Anerkennung für ihre Porträts und Stillleben, sondern auch in Paris, wo sie seit 1883 ihre Gemälde ausstellte. Der Erfolg sicherte ihr finanzielle Unabhängigkeit, sodass sie sich gesellschaftliche Freiräume erobern und sich nach ihrem Lebensentwurf entfalten konnte, was den meisten ihrer Zeitgenossinnen verwehrt war.

Als einzige Künstlerin vertrat sie 1912 die Schweiz bei der "Internationalen Kunstausstellung des Sonderbundes" in Köln - neben männlichen Kollegen wie Ferdinand Hodler und Giovanni Giacometti. Trotz ihrer einst internationalen Wertschätzung ist Roederstein fast unmittelbar nach ihrem Tod in Vergessenheit geraten.

In ihrem umfangreichen, in thematischer und stilistischer Hinsicht vielfältigem Œuvre spiegeln sich die modernen Entwicklungen des europäischen Kunstgeschehens, wobei sich Ottilie W. Roederstein zeitlebens im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne bewegte und nie zur künstlerischen Avantgarde gehörte.

Ein Jahr nach ihrem Tod wurden ihr 1938 in Erinnerung an ihr künstlerisches Vermächtnis und an ihr unermüdliches Engagement als Mittlerin zwischen der Schweiz und Deutschland in Frankfurt, Zürich und Bern Gedenkausstellungen ausgerichtet.

Durch die Zäsur des Zweiten Weltkriegs und die allgemeine Fokussierung des Kunstbetriebs auf abstrakte Malerei geriet Roedersteins Werk jedoch in Vergessenheit. Nun, nach über 80 Jahren, ist ihr Werk in einer monografische Werkschau im Kunsthaus Zürich wiederzuentdecken.

 

Ottilie W Roederstein, Jeanne Smith mit Hund, 1889

 

Roederstein, die gegen den Widerstand ihrer gutbürgerlichen Familie Künstlerin wurde, musste sich ihren Lebensunterhalt als freischaffende Künstlerin selbst verdienen. Dementsprechend arbeitete sie gezielt für den Kunstmarkt und hielt sich in ihren frühen Jahren an die malerischen Konventionen und Erwartungen des jeweiligen Auftragsumfeldes. Sie bediente den Geschmack des bürgerlichen Publikums, das ihre Bilder kaufen sollte.

Dies zeigt sich zu Beginn ihrer Karriere durch den Einsatz einer dunkeltonigen Farbpalette sowie durch die Wahl ihrer Bildsujets: den Porträts und Stillleben.

Im Porträt der "Jeanne Smith mit Hund" von 1889 sehen wir ein melancholisches Damenbildnis in altmeisterlichen Hell-Dunkel-Inszenierung. Der Setter wird an der kurzen Leine gehalten und scheint sich gegen den ausgeübten Druck zu stemmen. Im Gegensatz zu dem seelenvollen Blick von Jeanne sieht er uns missmutig und unwirsch an.

In ihrem späteren Werk nahm Roederstein zunehmend Elemente anderen Kunstrichtungen auf. Auch die Temperamalerei, die sie ab 1910 (wieder) einsetzte, übte einen Einfluss auf ihren Stil aus, bevor sie in den 1920er-Jahren zu der ihr eigenen sachlich-nüchternen Bildsprache fand.

 

Ottilie W. Roederstein, Elisabeth H. Winterhalter mit Schäferhund, 1912

 

1912 entstand das Gemälde "Elisabeth H. Winterhalter mit Schäferhund". Es stellt Roedersteins Lebenspartnerin - eine Gynäkologin und erste deutsche Chirurgin - dar, mit der sich die Künstlerin 1909 im ländlichen Hofheim am Taunus niedergelassen hatte. Roederstein und Winterhalter unterstützten sich gegenseitig, stießen in traditionell Männern vorbehaltene Disziplinen vor und machten in Kunst und Medizin Karriere.

Im Porträt sind schon Nüchternheit und Realismus angedeutet; die Künstlerin sollte sich später mehr und mehr dem Stil der Neuen Sachlichkeit nähern. Sowohl die Temperamalerei als auch die intensive Beschäftigung mit der italienischen Zeichenkunst der Renaissance erzeugten einen plastischen und fast linearen Stil in heller getrübter Farbigkeit. Allerdings greift Roederstein nicht auf die Idealisierung der Renaissance zurück. Ohne jede Idealisierung hat sie nicht nur sich in zahlreichen Selbstporträts, sondern auch die Erscheinung ihrer Freundin gemalt. Die Dargestellte schaut ihre BetrachterInnen skeptisch, kritisch, ja mit nahezu abschätzigem Blick an.

Dem ergebenen Schäferhund wird nicht so viel (künstlerische) Aufmerksamkeit zuteil, sein Kopf ist flächig-expressiv gestaltet und hat mit der schlichten Kleidung und dem einfachen Hintergrund malerisch mehr gemeinsam als mit Elisabeths Gesicht.

 

Ottilie W. Roederstein, Zwillinge mit Wolf und Peitsche, 1916

 

Die "Zwillinge mit Wolf und Peitsche" von 1916 sind sorgfältig durchkomponiert, sie bilden eine Dreiecksform, wobei das Kleid des rechten Mädchens wegsteht, um den symmetrischen Aufbau nicht zu gefährden. Peitsche und Federn verstärken die Vertikalität. Während das rechte Kind durch seinen abwesenden Gesichtsausdruck und seine unsichere Handhaltung auffällt, ist der kritische Blick ihrer Schwester direkt zum Betrachtenden gerichtet. Auch der schmale "Wolf" schaut ernst. Mit der monochromen Farbgestaltung ist Roederstein hier auf der sicheren Seite.

Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz war Roederstein eine feste Größe im Kulturbetrieb. Die vielbeschäftigte Porträtmalerin förderte durch Ankäufe für ihre eigene Sammlung andere Kunstschaffende, unterstützte Ausstellungen moderner französischer und Schweizer Kunst und setzte sich für deren Verbreitung ein.

Bis zum 5. April 2021 ist sie im Kunsthaus Zürich zu sehen, dann kommt die Ausstellung unter dem Titel "Frei schaffend" ins Staedel Museum nach Frankfurt am Main (zu sehen vom 19. Mai bis zum 5. September 2021).

Quellen: Wikipedia, Kunsthaus Zürich, Staedel Musem, ARTinWORDS

Fotos von hier

 

Ausstellung, Malerei
21. Februar 2021 - 14:43

Nathan Oliveira, Standing Man with Stick, 1959

 

Der amerikanische Künstler Nathan Oliveira wurde mit Darstellungen von isolierten Figuren bekannt, er malte aber auch Tiere, Masken, Fetischobjekte und die Geschichte einer erfundenen Kultur mit schamanischen Zügen. Seine Themen und sein Stil variierten enorm, da er ästhetisch unabhängig war, obwohl er sich in seiner Malerei vom abstrakten (Willem de Kooning) und europäischen (Beckmann) Expressionismus sowie von Alberto Giacometti und Francis Bacon beeinflussen ließ.

Er sah sich nicht als Avantgardist, sondern der Garde, die nachher kommt - assimiliert, konsolidiert, verfeinert - zugehörig.

I'm not part of the avant-garde. I'm part of the garde that comes afterward, assimilates, consolidates, refines. (zit.n. Stanford magazine, 2002)

Nach dem Zweiten Weltkrieg überholte New York Paris als Zentrum der Moderne und der amerikanische abstrakte Expressionismus setzte sich in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren von New York bis San Francisco durch. Jackson Pollock eliminierte mit seinem "Action Painting" den Körper und die Gegenständlichkeit vollends aus seiner Kunst. Jeder, der diesen spontanen, gestischen und stark improvisierenden Stil nicht übernahm, galt als akademisch und traditionell.

Zur gleichen Zeit entdeckte Oliveira die Kunst von Max Beckmann, Oskar Kokoschka und Edvard Munch, die im De Young Museum in San Francisco ausgestellt wurden. Alle drei Künstler waren Expressionisten, die sich auf die erzählerischen Möglichkeiten der figurativen Kunst verließen, und eine starke Gegenströmung zur Abstraktion des Action Painting bildeten.

Max Beckmann unterrichtete 1950 in San Francisco eine Sommer-Malklasse, an der Oliveira teilnahm. Die Kraft, die von Beckmanns Malerei ausging, beeinflusste ihn wesentlich und überzeugte ihn davon, dass Malerei eine Geschichte erzählen muss. Trotzdem übte die Abstraktion weiterhin ihren Sog auf Oliveira aus.

Als er 1951 seinen Abschluss an der Kunstschule machte, war er also bereits mit beiden mächtigen künstlerischen Traditionen konfrontiert worden, die er in sein Werk integrierte: Figuration und Abstraktion.

 

Nathan Oliveira, Seated Man with Dog,1957

 

Er vereinte den körperlosen abstrakten Expressionismus und die Figuration des europäischen Expressionismus in psychologisch aufgeladenen Gemälden, die menschliche Isolation und Entfremdung erforschten.

In seinem "Sitzender Mann mit Hund" von 1957 (oben) erkennen wir eine rätselhafte flache Figur aus einer schwarzen Masse, die durch graue Pinselstriche entweder verdeckt wird oder sich bereits in Auflösung befindet. Ihre Präsenz ist schwach. Der Hund ist schon fast ganz verschwunden. Oliveiras nervöse Menschenbilder sind aus dicken Schichten abgewetzter und zerkratzter Farbe aufgebaut. Spricht die spontane suchende Qualität, die sich auf den Leinwänden abbildet, dafür, dass der Künstler die Figur im Prozess des Malens findet? Holt Oliveira die Figur aus der Farbe hervor oder lässt er sie in ihr verschwinden? Anwesenheit und Abwesenheit menschlicher und tierlicher Existenz werden als Thema verhandelt.

Als Oliveiras Werk 1959 in der Ausstellung "New Images of Man" im New Yorker Museum of Modern Art nationale Aufmerksamkeit erregte, war die Welt noch mit den Schrecken beschäftigt, die der Holocaust in Europa und der Einsatz von Atomwaffen in Japan real über den menschlichen Körper gebracht hatten. In dieser Ausstellung wurden Oliveiras Gemälde neben denen führender Europäer wie Alberto Giacometti und Francis Bacon gezeigt, die Bilder der menschlichen Figur in einer gottlosen und düsteren Zukunft anzudeuten versuchten. Auch Oliveiras Figuren und Landschaften spiegeln – weitaus stärker abstrahiert - eine Affinität zu diesen düsteren Visionen europäischer oder zeitgenössischer Künstler wider, die seinen Sinn für menschliche Konflikte und existenzielle Ängste teilen.

 

Nathan Oliveira, Running Dog, 1961

 

Das obere Bild trägt den Titel "Running Dog", für mich ganz klar ein liegender Hund, wenn auch der Hintergrund - die orange Farbe liegt wohl über dem Horizont - etwa anderes vorgibt.

 

Nathan Oliveira, Jumping Dog, 1962

Nathan Oliveira, Woman with Rottweilers, 1964

 

Oliveira, dessen Eltern von Portugal nach Amerika emigriert waren, beschreibt sein Werk mit dem portugiesischen Wort "saudade", das für eine spezifisch portugiesische Form des Weltschmerzes steht.

Das Konzept der Saudade lässt sich mit "Traurigkeit" und "Sehnsucht" nur unzureichend übersetzen. Das Wort steht für das nostalgische Gefühl, etwas Geliebtes verloren zu haben, und drückt oft das Unglück und das unterdrückte Wissen aus, die Sehnsucht nach dem Verlorenen niemals stillen zu können, da es wohl nicht wiederkehren wird. (vgl. Wikipedia)

 

Nathan Oliveira, Dog Man, 1994

 

Der "Dog Man" ist ein Beispiel für Oliveiras druckgrafisches Werk, hier Kaltnadel mit Aquatinta.

 

Nathan Oliveira, African Runner, 2001

 

Oliveira war ein Maler, der sich mit Erdfarben, dem Dreck und Schmutz, dem Entfetten und Abschaben, dem Wischen und Pinseln wohlfühlte. Er schuf einsame Figuren, die uns mit ihren satten Ocker-, Braun- und Rottönen und ihren tief strukturierten und dennoch ausgewogenen Pinselstrichen ebenso fesseln wie mit ihrer Lebendigkeit.

Oliveira hat die menschliche und tierische Figur zum Ausgangspunkt seines künstlerischen Prozesses gemacht, versuchte aber gleichzeitig sie in einem lebenslangen Prozess zu vergessen, zu überwinden, sich in Ideen und Bildern zur Abstraktion zu bewegen.

I always have wanted to be an abstract artist, but it had to be about something very particular. (zit.n. ebsqart)

 

Nathan Oliveira, Red Dog, 2000

 

Ein intensiv feuerroter Hund löst sich in einem orangeroten Hintergrund fast auf. Er ist gesichts- und eigenschaftslos. Die Auslöschung seiner Besonderheiten wird malerisch vollzogen, wir erfahren nichts über Geschlecht oder Rasse. Das Gemälde ist ebenso sinnlich, was seine Materialität angeht (Farbauftrag und die Oberflächenbeschaffenheit), wie spirituell: der Hund scheint, nicht erdverbunden oder geerdet, mit dem Umraum zu verschmelzen.

Oliveiras solitäre Hunde (ob in Bewegung oder in Ruhe) sind so lebendig, dass wir das Gefühl bekommen, dass sie sich anmutig und sicher in ihrer privaten Sphäre weiterbewegen oder verschwinden werden, nachdem sie sich von uns abgewandt haben.

 

Nathan Oliveira, Max 1, 1989

 

Oliveira liebte Hunde und unterstützte die Humane Society Silicon Valley, ein Tierheim in San Jose, nahe San Francisco. Dort fand 2012 auch eine Ausstellung seiner Hundebilder statt, darunter Bilder von Max, einem seiner geliebten Rottweiler und andere private, noch nie gezeigte Hundeporträts. Leider ist die Ausstellung auf der HSSV-Homepage nicht dokumentiert.

 

Nathan Oliveira unter Bild von Max
Foto von hier

 

Nathan Oliveira (* 1928 in Oakland, Kalifornien, gest. 2010 in Stanford/Kalifornien) war ein amerikanischer Maler, Grafiker und Bildhauer, Sohn portugiesischer Einwanderer. Ab den späten 1950er Jahren war Oliveira in fast einhundert Einzelausstellungen und darüber hinaus in Hunderten von Gruppenausstellungen in wichtigen Museen und Galerien weltweit vertreten. Ab 1955 lehrte er Kunst an verschiedenen Hochschulen, darunter das California College of the Arts, die California School of Fine Arts (heute das San Francisco Art Institute), die University of Chicago, die UCLA. Von 1964 bis zu seiner Pensionierung 1995 hatte er einen Lehrauftrag an der Stanford University inne. Oliveira erhielt viele Auszeichnungen, zwei Ehrendoktorwürden und im Jahr 2000  einen von der portugiesischen Regierung verliehenen Orden.

Quellen:

Wikipedia, ebsqart, The New York Times u.a.

 

Grafik, Malerei
14. Februar 2021 - 21:10

Das ist Paša! Der Hund des kroatischen Malers Miloslav Kraljević!

 

Miroslav Kraljevic, Paša, 1910

 

Miroslav Kraljević ist als einer der Begründer der modernen Kunst in Kroatien eine Schlüsselfigur der kroatischen Malerei des frühen 20. Jahrhunderts. Obwohl aufgrund seines frühen Todes sein Oeuvre relativ klein blieb, übte er mit seinen Gemälden, Zeichnungen, Drucken und Skulpturen, die in nicht ganz sechs Jahren kulminierenden Schaffens von Požega, Wien, Zagreb, München und Paris aus entstanden, einen starken Einfluss auf die nachfolgenden Künstlergenerationen aus.

Sein Werk enthält sowohl Elemente des Impressionismus als auch des Expressionismus, auffällig ist allerdings seine Nähe zu den Malmethoden Cezannes, denen er ab 1911 in seinen Porträts, Stillleben, Tieren und Landschaften nachspürte. Der Einfluss des Franzosen geht auf einen Aufenthalt Kraljevićs in Paris zurück, das in den 1910er Jahren das Zentrum der europäischen Kunst darstellte und für kroatische Künstler, die sich bis dahin eher nach Wien oder München orientierten, im wörtlichen und übertragenen Sinn nicht nahelag. Kraljević und andere kroatische Maler seiner Generation wandten sich gegen die herrschenden akademischen Traditionen mit ihren literarischen, historischen oder moralischen Bezügen und den französischen Impressionisten als Vorbilder zu. Kraljevic flanierte durch Paris, beobachtete die Gesellschaft und malte, was er sah.

Der Kroate hatte nur sechs Jahre Zeit seinen Stil zu entwickeln. Wahrscheinlich war er als junger Student künstlerisch beeinflussbar und hat alles Neue, jede avantgardistische Strömung wie ein Schwamm aufgesaugt.

Mir allerdings gefällt ein Werk am besten, in dem er ganz traditionell malt und seine große Begabung für tiefgründige Menschen- und Tierporträts zum Ausdruck kommt. Nicht von ungefähr wird Kraljević in Kroatien als "Künstler der Seele" bezeichnet.

 

Miroslav Kraljevic, Selbstporträt mit Hund, 1910

 

Ganz bemerkenswert an diesem Doppelporträt finde ich den gleichen Gesichtsausdruck der beiden: Herr und Hund schauen unsicher und fragend, ja sogar skeptisch und sorgenvoll. Großartig, wie die ganze Seele nur im Blick, im Glanz der Augen liegt. Ganz deutlich ist zu spüren, wie der Maler seine Hand beschützend auf Paša legt, ihn förmlich an seinen Körper drückt. Wir sehen zwei Lebewesen, die sich einig und sehr nahe sind.

 

Miroslav Kraljevic, Selbstporträt mit Hund, Detail, 1910

 

Miroslav Kraljević (*1885 in Gospić/Kroatien, gest. 1913 in Zagreb/Kroatien) verlässt 1904 nach der Matura Kroatien und zieht nach Wien, wo er Rechtswissenschaften studiert und privat Malunterricht nimmt. Zwei Jahre später bricht er sein Jurastudium ab und widmet sich nur noch der Malerei. 1906 geht er nach München, das neben Wien als wichtiger Knotenpunkt der europäischen Kunstszene gilt, und schreibt sich an der Akademie der Bildenden Künste ein. Nach mehrjährigem Studium zieht er zu seiner Familie nach Požega zurück, wo er die Jahre 1910 und 1911 verbringt. "Selbstbildnis mit Hund" stammt aus dieser Zeit. 1911 erhält er auch ein staatliches Stipendium für Paris, wo er ein Jahr studiert. 1912 kehrt er nach Kroatien zurück, mietet ein Atelier, malt, organisiert seine erste Einzelausstellung - und lebt am Rande des Todes. Auch ein Sanatoriumsaufenthalt kann an seiner unerbittlichen Krankheit, der Tuberkulose, nichts ändern. Er stirbt 1913 mit 27 Jahren in Zagreb.

Quelle: Venetian Cat

 

Malerei
5. Februar 2021 - 12:43

Dog 1, 2017 © Sabine Moritz

 

Der immer gleiche Hund läuft, sich umschauend, in einer verlassenen Stadt herum. Die Rollläden sind heruntergelassen. Die Geisterstadt ist in unterschiedlichen Abstraktionsgraden gemalt.

Im ersten Bild ist der Hund groß dargestellt, er spiegelt sich in den Wasserlacken, der Umraum ist nur gestisch expressiv bestimmt. Aussehen und inneres Erleben des Hundes scheinen in allen vier Bildern unverändert, nur äußere Stimmungs- und Wetterlagen ändern sich. Im zweiten Bild scheint etwas Ruhe eingekehrt, die Luft ist klarer.

 

Dog 2, 2017 © Sabine Moritz

Ghost Town I, 2016 © Sabine Moritz

 

Ghost Town I und II zeigen fast denselben Bildausschnitt, wobei sich der Hund in der unteren Darstellung nahezu in Farbschlieren auflöst, er noch abstrahierter, entmaterialisierter und düsterer ist.

In dieser expressiveren Variante hat der Hund die gleiche Farbigkeit wie seine Umgebung. Neben dieser kalten Farbgebung bringt die Unschärfe etwas Geheimnisvolles, Lebendiges, aber auch Bedrohliches ins Bild.

Ich habe nach Spuren gesucht, die mir verraten, wieso mich diese Bilder an Asien denken lassen, etwa an ein verlassenes chinesisches oder japanisches Dorf. Welche Spuren habe ich gefunden: Der Bildtitel "Ghost Town" klingt nach einem Thriller aus dem Fernen Osten, einem Eastern. Zeigen sich vielleicht Schriftzeichen im expressiven Duktus? Könnte nicht der blinde Samurai gleich zwischen den Häusern hervortreten?

 

Ghost Town II, 2016 © Sabine Moritz

 

Ganz falsch lag ich mit meiner Spurensuche nicht, denn die Bilder zeigen eine japanische evakuierte Stadt. Die deutsche Künstlerin Sabine Moritz hat die Bilder fünf Jahre nach dem Reaktorunglück von Fokushima nach einem alten Zeitungsfoto gemalt. Da die Einheimischen ihre Tiere zurücklassen mussten, blieb nur der verwaiste Hund im Bild. Die alte Heimat wurde für die ehemaligen BewohnerInnen und die Zurückgelassenen zur Gefahrenzone in dreckigem Katastrophengrau.

 

Dog, 2019 © Sabine Moritz

 

Sabine Moritz malt von Motiven, die ihr wichtig sind, mehrere Versionen, wobei sie den Bildausschnitt unterschiedlich skaliert oder die Bildwirkung durch die Wahl der Farben ändert. Damit dekontextualisiert sie das vorgegebene Motiv. Anstatt den Reaktorunfall zu malen, stellt sie dessen Auswirkungen dar und lässt uns im Unklaren darüber, was passiert ist.

 

Dog, 2017 © Sabine Moritz

 

Die Künstlerin wurde 1969 Quedlinburg in Ostdeutschland geboren und kam 1985 mit 16 Jahren in den Westen. Sie studierte zunächst an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, bevor sie in die Kunstakademie Düsseldorf eintrat. Schon während des Studiums begann sie aus dem Gedächtnis zu zeichen, etwa die Plattenbausiedlung Lobeda nahe Jena, wo sie aufgewachsen war. Später zog sie für ihre Bilder auch Familienschnappschüsse, eigene Fotos und Zeitungsquellen zur Ergänzung der Erinnerung heran.

Und um Erinnerung geht es in vielen ihrer Werke: die Erinnerung an Ihren Vater, der bei einem Arbeitsunfall starb, als sie gerade vier Jahre alt war, die Erinnerung an die DDR, die ihr verloren schien und Heimweh verursachte, nachdem die Familie 1985 von Jena nach Darmstadt ausreisen durfte. In ihrer Malerei konkretisieren sich Moritz' Untersuchungen darüber, wie man sich erinnert und wie die Erinnerungen einer ständigen Veränderung und Verzerrung unterzogen sind, ja einem Verblassen anheimfallen. Mit ihren figurativen Bildern malt sie gegen das bevorstehende Vergessen an und erzählt gleichzeitig von persönlichen Erfahrungen, die Teil einer kollektiven Geschichte sind.

 

Ruin, 2017 © Sabine Moritz

Screenshot von Dog I-III, 2012 © Sabine Moritz
Screenshot von Marian Goodman Gallery

 

Ich war in meiner Bildersuche und Internet-Recherche schon weit fortgeschritten, als ich las, dass Sabine Moritz seit 1996 die Ehefrau von Gerhard Richter ist. Zuvor war sie seine Studentin in Düsseldorf. Das hat mich insoferne überrascht, als ich noch nie etwas von dieser großartigen und vielschichtigen Künstlerin gehört hatte.

Vielleicht hatte ich erwartet, dass ihr als Frau des weltberühmten Gerhard Richter viele Türen offen stünden. Doch das Gegenteil scheint hier der Fall zu sein. Vielleicht will niemand in Verdacht geraten, sie aufgrund ihres Ehemanns zu protegieren. Wie anders ist es zu erklären, dass es vergleichsweise wenig mediale Resonanz auf ihre Bilder gibt, obwohl ihre Arbeiten in Deutschland unter anderem in der Kunsthalle Rostock, Kunsthalle Bremerhaven, Von der Heydt Kunsthalle Wuppertal und international in London und Paris ausgestellt wurden. Allerdings ist ihr Werk in einer großen Anzahl von Katalogen präsent.

Bis zum 27. März 2021 zeigt die Galerie Pilar Corrias in London ihre Arbeiten in der Einzelausstellung ‘Mercy’. Neben großformatiger abstrakter Malerei und Zeichnung wird erstmals ihr fotografisches Werk ausgestellt. Sehr umfassend werden ihre Arbeiten auf der Homepage der Galerie gezeigt.

Die Künstlerin lebt und arbeitet in Köln.

Quellen: Marian Goodman Gallery, Galerie Pilar Corrias, Felix Ringel Galerie

alle Bilder © Sabine Moritz

 

Ausstellung, Malerei, Zeichnung
25. Januar 2021 - 22:30

"Aufhören", "Stopp", wollte ich am liebsten rufen, als ich das erste Mal den Film von Henri-Georges Clouzot "Le mystère Picasso" (1955) gesehen hatte. Er dokumentiert Picassos Schaffensprozess als Malerei in Bewegung und in der Zeit. Picasso malt auf farbdurchlässigen Stoffbahnen (sie entsprechen der Projektionsfläche), bleibt aber unsichtbar, die Kamera nimmt von der anderen Seite auf. Der Zuseher kann miterleben, wie ein Bild über dem anderen entsteht, wie eine gute Variation durch eine schlechtere ersetzt wird und umgekehrt. Unzählige Bilder stecken unter der Letztfassung, die durch das Ende des Films mitbestimmt ist.

Nur in Ausnahmefällen ist ein Schaffensprozess dokumentiert. Will man etwas über den Entstehungsprozess erfahren muss man auf allerlei kunsttechnologische Untersuchungen zurückgreifen (Digitale Infrarot-Reflektografie, Röntgenanalyse etc.)

So viel zur bildenden Kunst. Doch wie viele Schichten, Ebenen stecken in einem Gedicht? Erzeugt ein geändertes Wort ein neues Gedicht? Wie fällt die Entscheidung für oder dagegen?

An all das musste ich denken, nachdem mir die Lyrikerin Sofie Morin ein Gedicht zu einem Gemälde zugeschickt hatte, das sie dann durch ein anderes Gedicht ersetzte. Sie hatte meinen Blog und mich entdeckt, als sie auf der Suche nach Lotte Lasersteins Bild "Die Unterhaltung" von 1934 war.

 

Ich bin unter anderem Lyrikerin und ertappe mich in den letzten Monaten ständig dabei Hunde dort und da in meine Gedichte zu flechten. Als würden sie mir notorisch quer durchs Bild laufen. Eine andere meiner Angewohnheiten ist das Aufschlagen von Kunstbildbänden an beliebiger Stelle und dann das Dichten dazu. Nun hat hier offenbar beides zusammengefunden bei Lotte Lasersteins Gemälde mit Hund (…), schreibt mir Sofie Morin.

 

Auch hundeaffin, hat sie die zum Bild entstandenen Gedichte mit mir geteilt. Die zwei Gedichte waren für mich perfekt. Wie viele Variationen liegen aber noch zwischen den beiden?

Nun kann ich nicht Sofie Morins Schreibprozess, ihre Gedicht-Genese darstellen, wie sie vielleicht mit Kritzeleien, Durchstreichungen, Hinzufügungen gearbeitet hat, um zum vorliegenden Gedicht zu kommen, sondern muss mich alleine auf dessen Präsentation beschränken, die sie mir erfreulicherweise erlaubt hat.

 

beredt

auch unbeachtet
hältst du den raum

im verweilen beredt
keiner wie du
der hund

erdest erregtheit
mit seelenruhigem blick

vom äußersten bildrand
hütest die worte
einander hingeworfen

dein beharrlicher gleichmut
lässt keines entweichen

hellgesichtige redner
spannen bögen unversehens
über dich hinweg

du bewachst was sie sagen
was kein andrer wissen soll

lebhaft im schattenwinkel
das offene gespräch
unter dachschrägen verbannt

 

Sofie Morin, November 2020
Zu Lotte Laserstein "Die Unterhaltung" (1934)

 

Die Unterhaltung, 1934 © Lotte Laserstein
Foto von hier

 

Gedicht und Gemälde sind zweidimensional - am Anfang steht das weiße Blatt Papier und die leere Leinwand. Beschrieben und bemalt eröffnen beide Räume: das Bild im wörtlichen Sinn als Dachkammer/Dachschräge, während das Gedicht Wort-Räume entfaltet (z.B. hältst du den raum / im verweilen beredt).

Besteht eine Beziehung zwischen Gedicht und Gemälde und bezieht sich das eine ganz konkret auf das andere, entsteht ein (Denk)raum des "Dazwischen". Wir können vergleichen, zwischen Lesen und Schauen - vielleicht sogar Überprüfen - hin- und herspringen.

Sofie Morin rückt den Hund ins Zentrum, er bekommt die Bedeutung, die ihm zusteht: Denn seine bloße Anwesenheit erdet, behütet, bewacht. Somit konstituiert der Hund den Gesprächsrahmen (hellgesichtige redner / spannen bögen unversehens / über dich hinweg).

Das einfühlsame Gedicht trifft das Bild ins Mark. Können Sie nach Lesen des Gedichts "beredt" das Gemälde "Die Unterhaltung" noch anders sehen als von Sofie Morin beschrieben?

Sofie Morin lebt und arbeitet in Wilhelmsfeld bei Heidelberg/D.

 

Literarische Veröffentlichungen 2019/20 in: Die Rampe (Linz), Mosaik - FreiVers (Salzburg), Landstrich (OÖ), Schreibkraft (Graz), neolith (Wuppertal), Forum Land-Anthologie (NÖ), Zeilen.Lauf-Anthologie (Baden), Corona-Tagebuch Literaturherbst Heidelberg, MUC-Anthologie (München; ab Minute 40), Fluch't'raum (Wien), DUM (NÖ) (3 Ausgaben), &radieschen (Wien), Literarischer Salon Kurpfalzmuseum (Heidelberg), Scivias-Anthologie (Herder-Verlag), Pappelblatt (Wien, 3 Ausgaben), Die Stille (Braunschweig), Syltse (Wien; 2 Ausgaben), Phantastische Bibliothek Wetzlar (2 Anthologien), Literaturherbst Heidelberg, Lit:us Fanzine, Theater Heidelberg & Rhein-Neckar-TV: Coronline Show II: (ab Minute 12)etcetera (St.Pölten), Litopian AnthologieInternational Online Exhibition UNESCO Cities of LiteraturePoesie unterwegs 2019&20 (Heidelberg), UND (Innsbruck), Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis-Anthologie 2020  (Quintus Verlag), perspektive (Graz/Berlin/Wien), Lyrische Hefte (Salzburg), klischée (Heidelberg), Hörspielplatz (Bermudafunk, Karlsruhe), Bermudafunk Lesung Kurzgeschichte “Fremdkörper”: (ab Minute 44)Poesie Album neu (Leipzig), Das fröhliche Wohnzimmer (Wien), MixTape (Moloko Print), Lyrik der Gegenwart (Anthologie  Edition Art Science),  Mosaik - Freivers Bachmann (Salzburg) INKA-Magazin (Karlsruhe), Anthologie zum 6. Bubenreuther Literaturwettbewerb, Poetica Pandemica (Lorbeer Verlag), Mosaik-FreiVers Amerika gemeinsam (Salzburg), Baltrum-Verlag (Pfalz), Wuppertaler Literatur Biennale 2020 (ab Minute 11:40), Corona-Überleben-Tagebuch (Ebbe & Flut-Verlag, Wien) #PrinzipHoffnung (Literaturstadt Heidelberg), Mosaik Adventskalender 2020

 

Film, Literatur, Malerei