20. Juni 2021 - 10:43

Kennen Sie Google Poetics? Ich musste danach googeln. Google Poetics entsteht, wenn Suchanfragen von google automatisch ergänzt werden. Der Algorithmus erschafft sozusagen Poesie.

Der Titel der Serie  "Sit Silently" der lettischen Fotografin Katrina Kepule geht auf die Internet-Suche zu "sitzen" zurück und ist die kürzeste Ergänzung, die mit "sitzen" assoziiert wird: "Sit silently /sit silently doing nothing / we sit silently and watch the world / we sit silently and watch".

Katrina Kepule beschreibt sich selbst als introvertierten Menschen, der zu Fernweh neigt und viel Zeit sitzend, beobachtend und analysierend verbringt. In ihr klang die Phrase "Sit Silently“ nach und sie machte sie zur Grundlage ihres Foto-Projekts, das zwischen 2013 und 2015 entstand.

 

Sit Silently © Katrina Kepule

 

Die Foto-Serie stellt die Stille als einen positiven Zustand der Kontemplation, der introvertierten Ruhe und der der unprätentiösen Feier des Lebens dar. Aber die Stille hat auch negative Konnotationen, wenn das Schweigen als Manifestation einer Resignation auftaucht, die durch innere Konflikte ausgelöst wird, wie sie für die Menschen im ländlichen postsowjetischen Lettland häufig sind.

 

Sit Silently © Katrina Kepule

 

Während Tamás Hajdu im letzten Blogbeitrag das kleinstädtische Leben in Rumänien fotografisch dokumentiert, untersucht Kepule die alltäglichen Riten der Subkulturen im zeitgenössischen Lettland rund um Riga. Auch sie fängt Orte ein, wo europäische und sowjetische Einflüsse nebeneinander existieren, Orte, in denen sich in den Innen- und Außenräumen die alte und neue Zeit ergänzen.

Die Fotografin begibt sich mit einem konzeptionellen Blick auf eine Suche nach ihrer lettischen Identität in der Peripherie mit ihren langsamen Routinen und Momenten, mit ihren spezifischen Werten und Bedeutungen jenseits der urbanen Strukturen.

Kepule wählt die Dokumentarfotografie, um das Gewöhnliche in Form einer geheimnisvollen fiktiven Fotoerzählung zu vermitteln. (Ich habe lediglich die wesentlichen Teile der Geschichte - die Hunde - rausgepickt).

 

Sit Silently © Katrina Kepule

 

Sie beschreibt ihre Methode als "subjektive Dokumentation" - eine intuitive Arbeitsweise, die Subjektivität und Relativität in die Dokumentarfotografie einbringt. Mit ihrer intuitiven bzw. naiven Herangehensweise kommt sie zu Ergebnissen, die zu filmisch und poetisch wirken, als dass sie rein abbildend wirken.

Kepule sieht sich auch nicht nur von lokalen lettischen Dokumentaristen und den Magnum-Fotografen beeinflusst, sondern nennt auch Filmemacher wie Wim Wenders, David Lynch, Lars von Trier und Andrey Tarkovsky als Inspirationsquellen.

 

Sit Silently © Katrina Kepule

Sit Silently © Katrina Kepule

 

Oben sehen Sie mein absolutes Lieblingsfoto von Katrina Kepule: Es fällt mir schwer, diesen Hund als Hund zu betrachten und nicht als Mensch, so menschlich ist seine Pose und sein Ausdruck. Ist er ein sehnsuchtsvoller Romantiker, der den Mond betrachtet? Ist er ein kontrollierender Biedermeier, der seine "Mitmenschen" beobachtet?

 

Sit Silently © Katrina Kepule

 

Katrina Kepule (*1981 in Lettland) hat den Bachelor of Arts in Audio- und visueller Kultur und Theorie an der Lettischen Kulturakademie in Riga erworben und viele professionelle Fotografie- und Meisterkurse absolviert. Weiters arbeitete sie als Fotoreporterin in der Kanzlei des lettischen Parlaments.

 

alle Fotos © Katrina Kepule

Fotografie
13. Juni 2021 - 10:05

Half, 2012 © Tamás Hajdu

 

Dieses Foto ist Programm. Es enthält alles, was den rumänischen künstlerischen Foto-Dokumentarist und Veterinär Tamás Hajdu ausmacht: Es erzählt eine Geschichte (von alt-neu, arm-reich, Kommunismus-Kapitalismus, Umwelt-Tier), ist vermutlich ein Schnappschuss, wirkt aber wohlkomponiert und hat in Verbindung mit dem Titel "half" eine gehörige Portion Humor. Nur ein Teil der Bewohner der Siedlung konnte die Kosten für eine Renovierung aufbringen, weshalb die Fassade nur halb fertiggestellt wurde.

Hajdu möchte, dass die Betrachter einen humorvollen "Aha"-Moment erleben und die Botschaft entschlüsseln, die in seinen Fotos versteckt ist. Jedes von ihnen kann aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden und jeder Blickwinkel erzählt seine eigene Geschichte. "Half" gehört zu einer Serie in der Tamás Hajdu den Alltag in seiner Heimatstadt fotografiert hat.

Seine Fotos zeigen die humorvoll-absurden, ironischen, aber auch tragischen Lebensumstände und Begebenheiten in seiner Nachbarschaft, den Parks, Garagen, Friedhöfen und Flohmärkten.

 

o.T., 2017 © Tamás Hajdu

 

Auf den ersten Blick mag die Serie wie eine lose Sammlung von Schnappschüssen erscheinen. Bei längerer Betrachtung wird jedoch klar, dass Hajdus Projekt neben dem Einfangen des "entscheidenden Moments" und einer starken Komposition auch verborgene Wahrheiten über das Alltagsleben in Baia Mare und anderen Teilen des ländlichen und kleinstädtischen Osteuropas offenbart.

Es erzählt inhaltlich von absurden Gegensätzen: von alten Gewohnheiten und einer Laissez-faire-Haltung, die zu Verfall und Verwahrlosung führt, aber auch von Aufbrüchen zu Neuem und der Bereitschaft zur Veränderung.

Baia Mare - und hunderte andere Kleinstädte, die über ganz Rumänien und darüber hinaus verstreut sind - haben sich in diesem eigenartigen Netz aus Vergangenheit und Zukunft verheddert. Die Einheimischen stehen immer noch zu ihren Traditionen und halten an den alten Gepflogenheiten fest. Gleichzeitig jedoch unterliegt ihr Alltag und ihre Nachbarschaft großen Umwälzungen.

Manchmal scheint Optimismus aufkommen: Die Wände sind in lebhaften Farben gestrichen, die Graffiti-Botschaften sind immer originell und humorvoll und die sehr alten Autos werden auf geheimnisvolle Weise wiederbelebt.

 

o.T., 2017 © Tamás Hajdu

o.T., 2015 © Tamás Hajdu

o.T., 2017 © Tamás Hajdu

 

Das allgemeine Gefühl der Stille, das die isolierten Hunde in seinen Bildern umgibt, kommt auch von dem sorgfältig gewählten Hintergrund. Die Farben vervollständigen seine Bilder entweder durch ihre spezifische Botschaft oder dadurch, dass sie bewusst ein Gefühl der Aktualität hervorrufen.

 

o.T. © Tamás Hajdu

o.T., 2018 © Tamás Hajdu

o.T. © Tamás Hajdu

o.T., 2013 © Tamás Hajdu

o.T., 2018 © Tamás Hajdu

o.T., 2012 © Tamás Hajdu

o.T. © Tamás Hajdu

The postman rings just once, 2010 © Tamás Hajdu

o.T., 2018 © Tamás Hajdu

 

Er stellt den Alltag in einer ausgewogenen Mischung aus intelligentem Humor, Realitätssinn, Mitgefühl und Traurigkeit dar. Tamás nennt sich selbst Fine Art Documentarist. Er dokumentiert, achtet aber auch auf Details, Komposition, Licht und Hintergrund. Derart erreicht er reizvolle Gegenüberstellungen und visuell auffällige Kompositionen mit formaler Strenge, die ihn davor bewahrt ins Romantisierende, Triviale, Kitschig-Sentimentale abzugleiten.

 

o.T., 2018 © Tamás Hajdu

 

Die Städte und Dörfer sind in graue Melancholie getaucht, aber sie haben auch ihre heiteren Momente, die Tamás mit bewundernswerter Leichtigkeit, Verschrobenheit und Humor einfängt.

 

o.T. © Tamás Hajdu

 

Oft untergräbt ein humorvolles Foto das Thema oder das Medium selbst und lässt das Bild wie einen Trick für billige Lacher wirken. Aber es kann eine enorme Wirkung haben, wenn die Komposition, der Moment und die Umgebung genau richtig zusammenpassen und der Fotograf klug genug ist, um zu wissen, wann und wie er den Auslöser drücken muss.

 

o.T., 2018 © Tamás Hajdu

 

Tamás Hajdu ist ein subtiler und nachdenklicher Geschichtenerzähler über das urbane und rurale Leben im ehemaligen Ostblock, das heutzutage - im andauernden Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus - immer noch desorientiert aussieht. Für Hajdu entwickelt sich dieser Übergang - sowohl visuell als auch sozioökonomisch - in eine chaotische Richtung.

Die Schwarz-Weiß-Fotografien gehören zur Serie The Patient files: At the Vet

 

o.T. © Tamás Hajdu

Beastie Boy © Tamás Hajdu

Call of Duty © Tamás Hajdu

OG © Tamás Hajdu

o.T. © Tamás Hajdu

Incognito © Tamás Hajdu

 

Das Bild der osteuropäischen Hinterhöfe und Garagen ist meist unordentlich. Das sind die Orte, wo streunende Hunde leise wie Geister (unten "Ghost" ) im nebligen Morgen spazieren gehen.

 

Ghost © Tamás Hajdu

o.T., 2016 © Tamás Hajdu

Jump © Tamás Hajdu

o.T., 2018 © Tamás Hajdu

o.T., 2016 © Tamás Hajdu

o.T., 2017 © Tamás Hajdu

o.T., 2011 © Tamás Hajdu

 

Tamás Hajdu kommt aus einer künstlerischen Familie und entdeckt 2005 die Fotografie für sich, die er ernsthaft, aber ohne formale Ausbildung betreibt. Als Tierarzt, der in einem diagnostischen Labor arbeitet, geht er auf die Beziehung zwischen den Menschen und den Tieren der Stadt ein. Mit Liebe und Leidenschaft  fotografiert er die zufälligen Begegnungen mit streunenden Hunden. Humor spiegelt sich in den Bildern selbst und sogar in ihren Bildtiteln wider.

Aufgrund des rumänischen sozialen und wirtschaftlichen Kontextes sieht man viele Streuner auf den Straßen und Gassen zwischen den Wohnhäusern. Effiziente staatliche Tierheime oder Kastrationsprojekte gibt es kaum. Orientierungslos laufen die Hunde wie Geister durch den schmutzigen Schnee.

Auf seinem Blog finden Sie unzählige Fotos des rumänischen kleinstädtischen Alltags (und auf Instagram den Alltag seines Dackels). Ich habe mich auf Fotos mit Hunden beschränkt, wobei mir die Auswahl sehr schwer gefallen ist. Einen kleinen Schwerpunkt habe ich auf die streunenden Hunde im Winter gelegt, die mich besonders bewegen.

Wurde der "einsame Baum" von C. D. Friedrich für die Nachfahren der Romantiker zum Topos, so ist es für mich der verlassene einsame Straßenhund, der mir in der zeitgenössischen Fotografie immer wieder begegnet.

“I share my heart with you”, möchte ich jedem einzelnen zurufen.

 

o.T., 2016 © Tamás Hajdu

I share my heart with you, 2016 © Tamás Hajdu

o.T., 2020 © Tamás Hajdu

 

Hajdu Tamás (*1976 in Simleu Silvaniei/Rumänien) stellt national und international aus. Seine Arbeiten werden in einer Reihe von Fotomagazinen und Publikationen vorgestellt, darunter Punctum, Practical Photography, Vice, Lenscratch, Feature Shoot, The Independent, La Repubblica und The Guardian.

Alle Fotos © Tamás Hajdu

 

Fotografie
6. Juni 2021 - 9:28

Aus unerfindlichen Gründen habe ich auf Facebook eine Gruppe "Masculinity in male portraits" vorgeschlagen bekommen, wo dieses interessante Porträt "Hans und George" vom australischen Künstler Robert Hannaford gepostet wurde.

 

Hans und George © Robert Hannaford

 

Interessant deshalb, weil der Hund von hinten zu sehen ist, was ich wirklich ungewöhnlich finde. Zweifellos wäre es dem geübten Porträtisten möglich gewesen, den Hund auch von vorne zu erfassen.

Schauen Sie den Hund auf dem unteren Gemälde "Bill" an: Dieser Blick! Welch weichen, melancholischen, sensiblen, gar sprechenden Ausdruck er hat; ganz im Gegensatz zu seinem Halter, einem Jackaroo mit eher martialischer Miene und harten Zügen. Sie werden mir sicher zustimmen, dass die Darstellung des Hundes den Cowboy in den Schatten stellt.

Peter Jacobsen beschreibt auf The Varnished Culture Hannafords Arbeitsprozess:

 

“Whereas many work from photographs, he demands that you sit. And sit. And sit. He props you on a little stage he constructs (he’s a far better painter than carpenter), sticks his easel beside you, spreads out a drop sheet, kicks off his shoes, stands back five yards, stares at you intently – and charges. Literally. He makes a brushstroke, just one, and retreats…And this goes on and on for days.” (zit. n. The Weekend Australian Magazine, June 2016)

"Während viele nach Fotos arbeiten, verlangt er, dass man sitzt. Und sitzen. Und sitzen. Er stellt Sie auf eine kleine Bühne, die er selbst gebaut hat (er ist ein viel besserer Maler als Schreiner), stellt seine Staffelei neben Sie, breitet ein Bettlaken aus, zieht seine Schuhe aus, tritt fünf Meter zurück, starrt Sie aufmerksam an - und stürmt los. Buchstäblich. Er macht einen Pinselstrich, nur einen, und zieht sich zurück... Und das geht tagelang so weiter."

 

Wenn ich davon ausgehe, dass die Rückenansicht des Hundes nicht darin begründet ist, dass er von vorne nicht ruhig sitzen und sitzen und sitzen wollte, hat sie vielleicht einen formalen, in der Komposition liegenden Grund: Der Rücken des Hundes bildet eine formidable Parallele zum Bein von Hans. Und Bills Hund hat vor dem Hocker keinen Platz.

Beide Porträtierten sehen uns direkt und frontal an. Sie sind nicht in ihrer Beziehung zum Tier dargestellt, es gibt weder Blickkontakt noch Berührung. Die Hunde sind bloß weitere Elemente, die den Dargestellten näher charakterisieren, ebenso wie Hans´ Stock und Schiebermütze oder Bills Zigarette und Cowboyhut.

Mir gefällt das intensive und ergreifende Porträt des alten Hans, der in all seiner Unvollkommenheit, mit eingefallenen Wangen und Mund, dargestellt wird. Das satte Grün des Pullovers und das Blau der Hose unterbrechen die Monochromie der braunen Ödnis und verleihen seinem Träger etwas Modernes und Zeitgenössisches.

 

Bill © Robert Hannaford

 

Robert Hannaford malt Stillleben, Landschaften, aber vor allem Porträts und Selbstporträts. Letztere erinnern mich von der Bildauffassung und dem Blickwinkel stark an Lucian Freud. Die Porträts sind einer naturalistischen Tradition verpflichtet, er stellt bewusst die Repräsentation über die Abstraktion. Dabei arbeitet er nach dem Modell und nicht nach Fotos, mit dem Ziel das Wesen seiner Subjekte einzufangen. Für ihn ist der Prozess des Porträtierens eine Erforschung das Charakters, der über die Fotografie hinausgeht. Durch das Modellstehen über einen langen Zeitraum hinweg erhält der Künstler Einblick in verschiedene Emotionen der Porträtierten, die im Gemälde spürbar werden.

Als einer der bedeutendsten Porträtkünstler Australiens, hat er bereits Hunderte von Porträts gemalt. Dabei genießt er einerseits die Disziplin, die ihm ein Auftrag auferlegt, ist aber andererseits auch offen für die Ideen seiner AuftraggeberInnen, hinsichtlich darauf, wie sie dargestellt werden möchten. Deren Ideen führen ihn oft zu neuen Sichtweisen und Kompositionen.

Robert Hannaford (*1944 in Riverton/Australien) wuchs im ländlichen Südaustralien auf, arbeitete als politischer Karikaturist beim 'Adelaide Advertiser', ab Ende der 1960er Jahre wendet er sich als Autodidakt ganz der Malerei und Skulptur zu. Nach Jahren in Melbourne, Adelaide und Sydney lebt und arbeitet er heute mit seiner Frau, der Künstlerin Alison Mitchell, wieder in der Nähe von Riverton.

alle Bilder © Robert Hannaford

 

Malerei
1. Juni 2021 - 10:42

Hunde sind ein nur selten dargestelltes Motiv des chilenischen Künstlers Fernando Alday. Doch die wenigen Arbeiten, die ich gefunden habe, strahlen eine Anmut und ruhige Präsenz aus, als wüssten die Tiere um die Bedeutung, die ihnen der Künstler gibt.

Alday achtet sorgfältig auf Proportionen und Komposition, aber vor allem auf die Farbe. Beachten Sie den grünen Schmetterling, dem der Hund mit seiner grünen Schnauze folgt! Sensibilität, Einfallsreichtum und chromatische Virtuosität sind Eigenschaften, die den Werken gemeinsam sind.

 

Perro, 2019 © Fernando Alday

Perro, 2018 © Fernando Alday

Perro, 2018 © Fernando Alday

 

Die Sensibilität und Leidenschaft für Papier, die den chilenischen Künstler Fernanda Alday auszeichnet, reicht bis in die Kindheit zurück. Als Sohn eines Antiquitätenhändlers hat er Zugang zu Manuskripten und mittelalterlichen Tinten. Früh interessiert er sich für Kalligrafie und für alte Bücher, die er nach Farben ordnet und in deren Textur und Inhalt er sich vertieft, früh lässt er sich als Suchender auf Papier, Farbe und Textur ein. Inzwischen arbeitet er auch mit alten Dokumenten und Büchern, die er auf Flohmärkten findet.

Mit dem Verwenden alter Papiere versucht er das Vergehen der Zeit darzustellen und das Ephemere des Lebenszyklus zu vermitteln.

 

"I start with an almost archaeological research on colour and texture. In my work I use old paper as my primary object, along with medieval ink. I am interested in the fact that these materials expose the passage of time, but in the sense that they make you feel that the present is within the circle of life". (zit.n.hier)

"Ich beginne mit einer fast archäologischen Forschung über Farbe und Textur. In meiner Arbeit verwende ich altes Papier als primäres Objekt, zusammen mit mittelalterlicher Tinte. Ich interessiere mich dafür, dass diese Materialien den Lauf der Zeit sichtbar machen, aber auch dafür, dass sie das Gefühl vermitteln, dass die Gegenwart im Kreislauf des Lebens liegt".

 

Alday wählt als erstes das Material aus, das er verwenden möchte. Das Material selbst kann bereits das Thema der Arbeit vorgeben. Er klebt es als Oberfläche auf die Leinwand, auf der er weiter zeichnet und collagiert. Seine eleganten, poetischen und stillen Mischtechniken aus Collage und Malerei strahlen Balance und Harmonie aus. Alte vergängliche Materialien werden in neuem Kontext wiederbelebt. Er entreißt das organische Papier - Briefe Manuskripte - dem Zerfall. Alte Bedeutungszusammenhange tauchen als Hundekopf oder Hundekörper wieder auf, wobei er geschickt schichtet, überlagert, malt und kritzelt. Vergangene private und kleine Geschichten werden derart Teil einer neuen Kunstgeschichte.

 

Perro, 2018 © Fernando Alday

Perros, 2018 © Fernando Alday

Llibre, 2019 © Fernando Alday

Llibre, 2018 © Fernando Alday

 

 

Papier, aber auch alte Bucheinbände werden ihrer Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit entzogen, verändert, wiederbelebt. Stilisierte Figuren tauchen auf: ein Hund, ein Maultier, ein Stier, ein Stuhl, eine Landschaft. In vielen Werken gibt es Anspielungen auf die Kunstgeschichte, Elemente primitiver Kunst, Affinitäten zur präkolumbianischen Ikonographie, aber auch zu Klee und Goya. Der Künstler nimmt sowohl das Klassische als auch das Moderne auf und macht es sich zu eigen. Manche Werke erinnern an die Patina alter Mauern mit Schichten an Übermalungen und abgerissenen Plakaten.

Fernando Alday (*1959 in Santiago de Chile/Chile) hat in Chile Grafikdesign studiert, übersiedelte in die USA und begann autodidaktisch mit der Malerei. In seinen Anfängen malte er abstrakte oder symbolische, präkolumbianisch inspirierte Bilder. Erst später begann er sich für die Figuration zu interessieren. Er lebt seit über 20 Jahren in Barcelona, stellt international aus und nimmt an europäischen Kunstmessen teil.

Kennengelernt habe ich Aldays Werk durch einen Hinweis von Anke Dilé Wissing, die mir seine Instagram-Seite empfahl. Vielen Dank, liebe Anke und Grüße an Puck!

Quellen: Villa del Arte Galleries

alle Bilder © Fernando Alday

 

Collage, Malerei
4. April 2021 - 15:16

Der japanische Fotograf Yamamoto Masao gruppiert seine Arbeiten in Serien - A Box of Ku, Nakazora, Kawa=Flow, Shizuka=Cleanse, Small Things in Silence, Tori (Vogel) -, die aber keine Projekte mit klaren Anfängen und Enden darstellen. Jede Fotografie ist als (flexibler, variabler) Teil eines größeren Zusammenhangs, aber auch als isolierter Ausschnitt gültig.

Die Fotos der einzelnen Serien bilden keine chronologische Geschichte, sondern die Erzählung wird durch die Art der Präsentation vom Künstler erzeugt. Dabei können die Installationen und Geschichten immer andere sein, je nachdem wo und in welchem Kontext Yamamoto ausstellt. Yamamoto arrangiert seine kleinen ungerahmten Fotografien an den Ausstellungswänden, wählt eine intuitiv als Ausgangspunkt aus und entwickelt daraus eine Geschichte in Bildern. Aus der Ferne betrachtet bilden diese Arrangements einen Fluss, einen Flow um den Ausstellungsraum.

 

I construct a story by hanging several small photos. I don’t do it chronologically. Sometimes I start with the end, sometimes with the middle, I never know where I will start. I attach one, then another, and then a third. Even I have no idea of the story it tells before I start hanging. It’s only in the theoretic hanging that the sense appears to me. (Yamamoto Masao zit.n. LensCulture)

 

Nakazora Installationsansicht, 2002 © Craig Krull Gallery

Installationsansicht, 2006 © Mizuma Art Gallery

 

Die Möglichkeiten zu ordnen und zu arrangieren sind grenzenlos, da jede leichte Verschiebung die Poesie dieser "visuellen Haikus" ändert. Doch nicht nur Yamamoto kann unendlich viele Kombinationen finden, auch der Ausstellungsbesucher, der die Fotoinstallation abschreitet, folgt seinen eigenen Assoziationen. Tausende individuelle Erzählungen entstehen auf diese Weise.

Jede Serie hat also ihre Installationen, ihre Publikationen und ihren sich entwickelnden Katalog mit nummerierten Drucken. Der Künstler gibt seinen Fotografien selten Titel. Die meisten sind bloß zu Identifikationszwecken nummeriert.

 

A Box of Ku #0214, 1993 © Masao Yamamoto

 

Jeder der Silbergelatineabzüge der Serien "A Box of Ku" und "Nakazora" ist etwas Einzigartiges und Kostbares in Bezug auf seine Größe, individuelle Verarbeitung, Tonung und Abnutzung:

Yamamoto gibt seinen Abzügen ein altes Aussehen, verleiht ihnen künstliche Patina, indem er sie mit Tee beträufelt, sie mit seinen Tränen verschmiert, sie zart koloriert oder auf ihnen malt. Er trägt sie mit sich herum, reibt sie in seinen Händen und schiebt sie in seine Taschen, bis sie zerknittert, eselsohrig, zerkratzt, zerrissen und abgenutzt aussehen. All diese manuellen Prozesse tragen nicht nur dazu bei nuancierte fotografische Objekte zu erschaffen, sondern auch die Grenze zwischen Malerei und Fotografie auf- und die Fotografie aus dem Kontext der Serienproduktion herauszulösen. Das Sichtbar-Machen seiner individuellen Handschrift durch den vermeintlichen Altersprozess erleichtert die Auseinandersetzung mit der Fotografie als taktilem Medium und die Rahmenlosigkeit verringert ebenso die räumliche Distanz und erhöht den emotionalen Zugang für die Betrachterin.

Doch noch etwas anderes will Masao Yamamoto mit dem Alterungsprozess erreichen: Wir sollen die Beziehungen zwischen Fotografie und Erinnerung neu untersuchen.

 

As you can see, my photos are small and seem old. In fact, I work so that they’re like that. I could wait 30 years before using them, but that’s impossible. So, I must age them. I take them out with me on walks, I rub them with my hands, this is what gives me my desired expression. This is called the process of forgetting or the production of memory. Because in old photos the memories are completely manipulated and it’s this that interests me and this is the reason that I do this work. (Yamamoto Masao zit.n. LensCulture)

 

Ich bin mir nicht sicher, was Yamamoto meint: Prozess des Vergessens oder die Produktion von Erinnerung? Wir alle vergessen so viel! Es macht mich sprachlos traurig, wie viel ich von meinen verstorbenen Hunden schon vergessen habe. Konserviert ein Foto die Erinnerung, die ich habe oder ersetzt es die Erinnerung, die ich nicht mehr habe? Erinnern wir uns womöglich nicht "richtig" und produzieren ständig selbst-manipulierte Erinnerungen? Konstruieren wir die Erinnerung als immer neu zu erzählende Geschichte, da wir uns nicht erinnern, sondern nur an die Erinnerung erinnern…?

 

A Box of Ku #0719 © Masao Yamamoto

 

Die meisten Serien erstrecken sich über mehrere Jahre, Etappen entlang eines Werkflusses, der durch das Leben mäandert.

"A Box of Ku" betont Intimität, Zeit und Erinnerung. Manchmal hängt Yamamoto die Abzüge nicht assemblagearitg an die Wände, sondern versammelt sie in einer Kiste und fordert die Besucher zum Stöbern auf. Wie eine Erinnerung können die kleinen Silbergelatineabzüge in der Hand oder zwischen den Fingerspitzen gehalten, an die Augen und Nase geführt werden, um besser berührt, betrachtet und gerochen zu werden.

 

Nakazora #1275 © Masoa Yamamoto
Der Makake, ein Altweltaffe, aus der Nakazora-Serie ist für Sofie S.

 

Die Makaken suchen im Winter in kühleren Regionen gerne heiße Quellen auf, die im vulkanreichen Japan recht häufig sind. Um ihre Körpertemperatur zu regulieren, halten sie sich manchmal stundenlang in diesen warmen Gewässern auf. Das Foto zeigt einen dieser Schnee-Affen, der sich, in Dreiviertelansicht und bis zur Brust im Wasser weilend, darin spiegelt. Mit geschlossenen Augen, anmutig, würdevoll, gelassen, befindet er sich im Zustand des Nakazora:

 

(...) in water and in air, in the steamy warmth of the hot spring and in the wintry mountain cold, between sleep and wakefulness, between the gravity of her body and the ethereal shimmer of her reflection (Sara Crowe zit.n.photocurios)

 

Nakazora beschreibt verschiedene Zustände des Dazwischen, der Unentschlossenheit. der Leere, des Schwebens, eine Grenzzone zwischen Himmel und Erde, "wo die Vögel fliegen" (vgl. photocurious) und die Makaken baden.

 

Nakazora #811 © Masao Yamamoto

 

"Kawa=Flow" - der Titel der Serie bezieht sich auf die Reise von der Gegenwart in die Zukunft, von einer konkreten Situation zu dem Unbekannten, das vor uns liegt - bricht mit dem Ausstellungsformat der kleinen ungerahmten Fotos und setzt einzeln montierte und gerahmte an seine Stelle. Die ungealterten Fotografien dieser Serie werden in der regelmäßigen, konventionellen Art und Weise von Galerie-Fotoausstellungen gehängt. Sie sind auch größer als die handtellergroßen Abzüge früherer Projekte, und während die charakteristischen Elemente seines Stils präsent bleiben - Motive aus der Natur, starke Kontraste, monochromatische Feinheiten und geometrische Präzision -, wird die Auseinandersetzung zwischen Bewegung und Stillstand und damit die Erfahrung von Zeit in jedem Bild neu behandelt.

"Kawa-Flow" wird bestimmt von der Idee der Fotografie als Haiku - jedes kleine Bild eine exquisite Aufnahme eines Moments, jeder Moment ein winziger Teil des endlosen Flusses des Lebens, unserer unaufhörlichen Bewegung von einem Jetzt zu einem Jetzt zu einem Jetzt. (vgl. photocurios). Die Bilder verehren eine gleichzeitige und ewige Gegenwart.

 

KAWA=FLOW  #1613, 2012 © Masao Yamamoto

 

Yamamotos Fotografie ist durchdrungen sowohl von Ästhetik als auch von Sensibilität. Beides hat ihren Ursprung im Zen-Buddhismus, Shintoismus, Daoismus und der japanischen künstlerischen Tradition. Sie nimmt auf auf spirituelle und ästhetische Konzepte wie Leere, Wabi-Sabi, Haiku, Yûgen Bezug:

An die ästhetische Tradition des Wabi-Sabi, in der Objekte für ihre Unvollkommenheit, Verwitterung und Authentizität geschätzt werden, erinnert die beschleunigte Alterung der Fotografien. An japanische Haiku, kurze Gedichte, erinnern die Fotografien, da sie ihre Kraft ebenso aus einfachen, direkten, alltäglichen Bildern aus der Natur beziehen. Das traditionelle ästhetische Konzept des Yûgen, mit dunkel, tief und mysteriös nur unzulänglich übersetzt, schätzt das Angedeutete und Verborgene höher als das offen zu Tage Liegende und klar Exponierte. Yûgen ist damit vornehmlich eine Stimmung, die sich für jene Andeutungen eines Transzendenten offen hält.

 

#4(dog on river), 1993 © Masao Yamamoto

 

Yamamoto zeigt eine zarte, flüchtige, harmonische Welt, die für jeden sichtbar ist, aber nicht von jedem wahrgenommen wird. Die meisten seiner Motive entnimmt er der Natur - Landschaften, Vögel, Bäume, Blüten, Insekten, Tiere, Blumen, Blätter, Felsen, Gewässer, Wolken, Vogelnester. Er ist ein wandernder Fotograf, der absichtslos - ohne Vorstellung und Ziel -, aber mit offenem Geist beobachtet und fotografiert. Er ist ein Entdeckender und Staunender.

Ich habe lange nach einem Wort gesucht, das seine Fotos bzw. das sie auslösende Gefühl am besten ausdrückt: Sie werden als spirituell, mystisch, harmonisch, raffiniert, subtil, kraftvoll beschrieben. Doch das passende Wort ist beruhigend, Frieden und Aussöhnung erzeugend. Yamamoto selbst hat es vorgeschlagen:

 

For me a good photo is one that soothes. Makes us feel kind, gentle. A photo that gives us courage, that reminds us of good memories, that makes people happy. (Yamamoto Masao zit.n. LensCulture)

 

© Masao Yamamoto

 

Masao Yamamoto wurde 1957 in der kleinen, halbländlichen Stadt Gamagori in der japanischen Präfektur Aichi geboren. Er studierte Bildende Kunst und Ölmalerei bei dem Künstler Goro Saito, bevor er sich 1980, in seinen 20ern, der Fotografie zuwandte, dennoch bleibt sein malerischer Hintergrund in seinen Werken offensichtlich. Er verwendet einen schwarz-weißen 35-mm-Film. Davon produziert er in seiner eigenen Dunkelkammer Silbergelatine-Abzüge, von denen er 20-40 Versionen ausgewählter Bilder anfertigt.

Wie meditative Objekte setzten sich die minimalen Motive mit ihrem oftmals transzendenten Ton der aktuellen Bilderflut des digitalen Zeitalters und der formalen Monumentalität und Farbigkeit der zeitgenössischen künstlerischen Fotografie entgegen.

 

Nakazora #1051, 2002 © Masao Yamamoto

 

Yamamotos Abzüge nehmen die Aura alter Familienschnappschüsse an, die Jahrzehnte in Schubladen, Alben und Dachböden verbracht haben und durch ihr altes Aussehen zum Nachdenken anregen - über Erinnerung, den Lauf der Zeit, den Fluss des Lebens.

Vielleicht werden die zwei Fotos meiner verstorbenen Hunde Lucy und Rocco, die ich in meiner Geldbörse bei mir trage, einmal so alt aussehen wie Yamamotos Abzüge. Dreißig, vierzig Jahre aufbewahrt - dog-eared - und nicht künstlich, sondern an der Hunde statt mit mir gealtert.

 

Quellen: LensCulture, Jackson Fine Art, Yancey Richardson, Galerie Stefan Vogdt, Atlas Gallery, Medium u.a.

alle Fotos mit Hunden © Masao Yamamoto

 

Fotografie
29. März 2021 - 11:24

Im Magazin Monopol war kürzlich eine Aufstellung der am teuersten lebenden Künstler zu lesen. Platz 9 nimmt Zeng Fanzhis "The Last Supper" mit 23,3 Millionen US-Dollar ein.

 

Das teuerste jemals versteigerte Gemälde ist der "Salvator Mundi" von (vielleicht?!) Leonardo da Vinci für 450 Millionen. Die Hommage an Leonardos Abendmahl vom chinesischen Maler Zheng Fanzhi erzielte nur ungefähr ein Zwanzigstel dieser Summe. Allerdings ist das immer noch ziemlich teuer für einen Tisch mit maskierten jungen Kommunisten, die ein Wassermelonenmassaker veranstalten. (zit.n.Monopol)

 

The Last Supper, 2001 © Zeng Fanzhi

 

Zeng Fanzhi? Tief in meiner Erinnerung vergraben, fiel mir ein Ordner mit Arbeiten seiner Masken-Serie ein, den ich vor Jahren angelegt hatte. Zu einem Blogeintrag kam es nicht, mir waren seine Bilder zutiefst unangenehm. Ohne näher darüber reflektiert zu haben, empfand ich wahrscheinlich deren unterschwellige Gewalt und psychologische Spannung. Nachdem ich mich inzwischen in Fanzhis Werk eingelesen habe, sehe ich auch die Männer hinter den Masken anders, empfinde ich nahezu Mitgefühl mit ihnen, gleichzeitig habe ich meine Abneigung verloren, die Arbeiten sind für mich "schöner" geworden.

Fanzhis Werk ist sehr vielfältig und stilistisch uneinheitlich. Ich beschränke mich auf seine Langzeitserie Mask (1994-2004), da bei dieser Serie manchmal ein Hund dabei ist.

 

mask series © Zeng Fanzhi

 

Wir sehen Männer am Strand oder in nicht oder nur karg möblierten Innenräumen. Die Settings sind sauber, glatt und poppig eingefärbt, aber auch flach und unnatürlich, sie spiegeln die polierte Erscheinung der Figuren wider. Der Kontrast zwischen diesen überschwänglich leuchtenden Farben und den traurigen angstbesetzten Figuren erzeugt Spannung und Unbehagen.

Köpfe und Hände sind übergroß, die Gesichter tragen Masken, die an Stelle der Figuren Gefühle zeigen. Zu bedrohlich scheint die Entblößung der eigenen Emotionen, die Offenbarung des wahren Selbst zu sein. Die Masken stehen dementsprechend sowohl für An- als auch Abwesenheit der Emotion.

Die unbeholfenen Hände sind expressiv gemalt und erinnern teilweise an rohes Fleisch, an ihnen wird die Verletzlichkeit der Protagonisten deutlich. Die Augen blicken leer, passiv, doch erwartungsvoll auf den Betrachter.

 

mask series © Zeng Fanzhi

 

Die jungen Männer sind elegant gekleidet, die Haare sorgfältig frisiert: Eleganz als Rüstung und Schutz vor einer unsicheren Welt. Anfang und Mitte der 1990er Jahre, in einer Zeit der rasanten Modernisierung Chinas, stieg die Zahl der wohlhabenden jungen Städter stark an. Sie lebten in urbanen Zusammenhängen, ohne ihren Platz gefunden zu haben.

 

mask series © Zeng Fanzhi

 

Der Hund könnte auch eine Katze oder eine Tasche sein, er ist nicht mehr als ein modisches  Accessoire, ein Ausstattungsdetail. Nicht seine Existenz als Hund wird verhandelt, er ist lediglich Projektionsfläche der konsumorientierten aufsteigenden Gesellschaft. Auch als tierischer Partner spiegelt er nur die Gefühle des Menschen: Der traurige Mann im ersten Bild ist in Tränen aufgelöst, auch der Hund weint um seinetwillen.

 

mask series © Zeng Fanzhi

mask series © Zeng Fanzhi

mask series © Zeng Fanzhi

 

Die Masken sind Metaphern für Verlust und Entfremdung. Sie verbergen den Schmerz und die Agonie hinter einem sozial akzeptablen Gesicht, beschönigen die chinesischen Gesellschaft, in der niemand ohne Maske auftritt.

Gleichzeitig üben seine Maskenbilder Kritik am Sozialistischen Realismus als einzig erlaubtem figurativen Stil, der nur idealisierte Bilder von glücklichen und gesunden Bürgern zeigte.

Neben der politischen und psychologischen Dimension hat die Serie, mit der sich Fanzhi zehn Jahre auseinandersetzte, auch eine persönliche Komponente: 1993 zieht er von Wuhan nach Peking. Bereits 1994 beginnt er mit der Maskenserie als Reaktion auf Gefühle der Einsamkeit und auf die Verwerfungen, die ein Leben in existenzieller Sorge in einer oberflächlichen urbanen Umwelt mit sich bringt. Mit der Maskenserie visualisiert er eine Zeit des persönlichen Umbruchs sowie eine Zeit beschleunigter gesellschaftlicher Veränderungen.

 

mask series © Zeng Fanzhi

 

Zeng Fanzhi (*1964 in Wuhan/China) schließt sein Studium der Malerei am Hubei Institute of Fine Arts in Wuhan im Jahr 1991 ab. Während seiner frühen Ausbildung in Wuhan beschäftigt er sich mit westlicher Kunst, Philosophie und der New-Wave-Art-Bewegung, die nach Jahren des Sozialistischen Realismus zeitgenössischen Impulsen der globalen Kunstwelt nachspürte und die chinesische Kunst internationalisierte. Auch Zeng Fanzhi sucht nach einer neuen, konzeptuelleren Bildsprache, er räumt dem Konzept bis heute Vorrang gegenüber dem Bild ein.

Seit über drei Jahrzehnten übt Zeng Fanzhi nun mit seiner Kunst Kritik am zeitgenössischen chinesischen Leben und stellt gleichzeitig einen Dialog zwischen östlichen und westlichen künstlerischen Traditionen her. Er lebt und arbeitet in Peking.

 

mask series © Zeng Fanzhi

 

Zu den Porträts, die Fanzhi im Laufe seiner Karriere entwickelt hat, gehören auch "unmaskierte" Bildnisse von Freunden und von ihm geschätzter Künstler. Einer davon war Lucian Freud. Fanzhi malte ihn nach Fotos, um den lange Bewunderten seinen Respekt zu erweisen.

 

Lucian Freud, 2017 © Zeng Fanzhi Studio

 

Und weil dieses Gemälde mit Hund so bezaubernd ist … eine "Zugabe" mit Fuchs!

 

Artist Series Lucian Freud, 2011 © Zeng Fanzhi Studio

 

Quellen:

Hauser & Wirth, Widewalls, GagosianThe Art Story, Sotheby's

alle Bilder © Zeng Fanzhi Studio

 

Malerei
22. März 2021 - 11:35

© Douglas Wirls

 

Was auf den ersten Blick wie ein Stachelschwein aussieht, ist ein Hund, der sich schüttelt.

 

© Douglas Wirls

 

Rhythmisch wälzen sich die Hunde. Mit schwungvoller Gestik gezeichnet, schütteln sie ihr Fell trocken. Zeichnungen im Fluss bilden Reigen an Hundekörpern, sich gegenseitig belauernd. Sie umkreisen einander abwartend, im Wissen darum, dass die Stimmung gleich umschlagen kann. Es kann laut werden und stürmisch zugehen. Der verwischte Hintergrund, aus dem Stellen frei radiert wurden, verstärkt die Dynamik des Geschehens. Mit fließenden Linien in Kohle, Rötel, Sepia sind seine Arbeiten kraftvoll, wild, dynamisch, aber auch lyrisch zart. Traditionell ist Douglas Wirls in seiner Kenntnis der Anatomie und in seiner genauen Naturbeobachtung.

 

© Douglas Wirls

© Douglas Wirls

© Douglas Wirls

© Douglas Wirls

 

Die Körper füllen den Raum aus, es gibt nichts daneben oder dahinter, und doch gehen die Zeichnungen weit über Hundestudien hinaus. Es gelingt dem Künstler über die Körpersprache der Hunde deren Interaktion und Kommunikation genau zu beschreiben: das gleichzeitige Stattfinden von abwarten, beobachten, auffordern, wegdrängen – ein Ritual des Kräftemessens. Mit Intensität und Sensibilität fängt er die emotionale Essenz einer Situation ein.

 

© Douglas Wirls

 

Der Hund unten gefällt mir besonders gut, obwohl seine Proportionen nicht richtig wirken: Der Kopf - vielleicht ein Dobermann - gehört zu einem sehr kompakten Körper, der Hals erscheint zu kurz. Vielleicht ist der Hund aber auch nur in die Jahre gekommen. Die verwischte Kohle bei der intimen, bis in die verborgenen Einzelheiten vordringenden Darstellung verstärkt einen unbeholfenen, unsicheren Eindruck.

 

© Douglas Wirls

 

Douglas Wirls (*1951 in Cleveland, Ohio/USA) hat in Philadelphia am Tyler College of Fine Art studiert. Er lebt seit mehreren Jahrzehnten in New York, wo er Grafik und Malerei  am Pratt Institute in Brooklyn unterrichtet.

alle Bilder © Douglas Wirls

 

Zeichnung
15. März 2021 - 12:17

To Live © Jong Seok Yoon

 

Es ist nicht viel über diesen koreanischen Künstler im deutsch- und englischsprachigen Internet zu finden und die Einträge sind schon mehrere Jahre alt. Trotzdem möchte ich Ihnen die sympathischen und ansprechenden Arbeiten von Yoon Jong Seok zeigen. Ich werde mich allerdings nicht zu Interpretationen versteigen, da die Malereien für mich nicht mehr als das sind, was sie darstellen: gemalte Kleidungsstücke aus unterschiedlichen Farben und Mustern - Blumen, Punkte, Streifen, Rhomben -, die gefaltet werden und etwas Neues entstehen lassen. Die Faltungen verwandeln den Stoff in Pistolen, Sofas, Schmetterlinge, aber auch in Hunde. Darüber hinaus sind die in Hundeform gefalteten Hemden und T-Shirts akribisch aus Punkten zusammengesetzt.

 

To Live © Jong Seok Yoon

Dog, 2009 © Jong Seok Yoon

© Jong Seok Yoon

Net Hanging Down The Concealed Side, 2008 © Jong Seok Yoon

Flowing Lightness-Dalmatian, Polka-dot Clothes, 2007 © Jong Seok Yoon

Rival- Barcelona, 2009 © Jong Seok Yoon

Rival - Manchester United, 2009 © Jong Seok Yoon

Same Bloodline, 2010 © Jong Seok Yoon

 

Jong Seok Yoon (*1970) lebt und arbeitet in der Republik Korea.

 

alle Bilder © Jong Seok Yoon

 

Malerei
8. März 2021 - 11:53

Schon vor Jahren ist mir Bärbel Rothhaar mit ihren Bienenprojekten im Internet begegnet. Da diese nicht zu meinem Blogthema passten, blieb es bei der Speicherung eines Links. Manchmal stöbere ich in meiner viele Jahre alten Linksammlung und spüre einzelnen KünstlerInnen nach. Und siehe da: Bei Bärbel Rothhaar habe ich Patti gefunden!

 

Patti, 2015 © Bärbel Rothhaar

 

Das Bild ist aus vordergründig disparaten Elementen zusammengesetzt: formlosen wässrigen Flächen und lasierenden Flächen, die Schatten bilden; konzentrischen Linien, die auf eine Wasserlacke hindeuten; dem Hund und den Pflanzen. Die Wörter, es handelt sich um botanische Begriffe, verweisen auf das Dargestellte: Google erklärt es näher. Eustoma grandiflorum ist der großblütige Prärieenzian, früher als Lisianthus bekannt. Stamina (Mz.), die Staubblätter, sind die Pollen erzeugenden Organe bei zwittrigen oder rein männlichen Blüten der Bedecktsamer. Das Stigma (die Narbe) dient der Aufnahme des männlichen Pollen. Der Stylus (der Griffel) in einer Blüte ist der Teil eines Fruchtblatts oder Stempels, der die Narbe trägt.

Die gelbgrünen Formen sind die Pollen, hoch ästhetische Gebilde, die seit der Erfindung des Mikroskops nicht nur WissenschaftlerInnen, sondern auch KünstlerInnen immer wieder faszinieren.

Patti, ein Whippet, kratzt mit der Pfote im Wasser. Malerischer Zufall und wissenschaftliche Genauigkeit ergänzen einander in dieser auf Braun- und Grüntöne beschränkten Arbeit. Auch wenn ein Teil des Bildrätsels gelöst ist, bleibt die Kombination der Teile in dieser Malerei doch geheimnisvoll und unergründlich.

Bärbel Rothhaar arbeitet oft in Serien, wobei ihre Themen (Natur, Naturwissenschaften und Ökologie) bei unterschiedlichsten Kunstprojekten vorkommen und Querverbindungen mit anderen Werken, wie Skulpturen oder Performances, eingehen.

So bildeten Aspekte von Symbiosen zwischen Lebewesen 2015 den Ausgangspunkt eines Kunstprojekts im Botanischen Museum in Berlin. Auch hier richtete sich der Blick der Künstlerin auf die Pollen der Pflanzen - auf Ihre Rolle in der Symbiose zwischen Pflanzen- und Tierwelt und natürlich auf die enorm wichtige Rolle der Bienen bei der Bestäubung.

 

Patti, 2020 © Bärbel Rothhaar

 

In einem perspektivisch uneindeutigen Raum sitzt Patti auf einem nach vorne geneigten roten Hocker, von dem sie eigentlich herunterrutschen müsste. Den oberen Bildraum nimmt eine Art Brücke ein. Die Verbindung von Innen und Außen bleibt unklar. Auch hier wirkt die Zusammenfügung von Gegensätzen - ornamentalen und informellen Bildteilen - charmant und anziehend.

Unten ein kleines Bild (30 x 40 cm) eines Kojoten, der in einer flachen Kuhle liegt: Drückt er schlafend die bunten Blumen zusammen oder wurde er, der Verstorbene, mit Blumen bekränzt? Ich tendiere zu Letzterem. Vielleicht wurde er von einem Auto angefahren und blieb leblos am Straßenrand liegen. Und die Künstlerin hat ihn malerisch zur Ruhe gebettet.

 

Kojote, 2020 © Bärbel Rothhaar

 

Inzwischen kenne ich die Erzählung hinter "Kojote, 2020". Er lebte in der kalifornischen Mojave-Wüste und war einer der zahlreichen Kojoten in dieser Gegend: Ein räudiges, krankes Tier, das von Nathini, der Tochter der Künstlerin, versorgt wurde. Sie gab ihm gelegentlich Wasser und Futter, das mit Medikamenten gegen Räude gemischt war.

 

An einem Ostersonntag ging das Leben des Kojoten aber dann doch zu Ende und er hat sich dafür die Terrasse ihres Hauses ausgesucht, um dort in der Nacht zu sterben. Das Foto mit den Wüstenblumen ist bei der Kojoten-Beerdigung entstanden und es hat mich so sehr berührt, dass ich es malen wollte. (Bärbel Rothhaar)

 

Beides, sowohl das Bild als auch die Geschichte, berührt auch mich. Ein Kojote, der so großes Vertrauen zu einem Menschen hat, dass er dessen Terrasse als Rückzugsort zum Sterben wählt. Eine Frau, die nicht gleichgültig gegen das Leid eines Tieres ist, ihm im Leben hilft und auch nach dessen Tod seine Würde achtet, indem sie ihn mit Zuneigung zu Grabe trägt. Und eine Künstlerin, die die Erinnerung an "Kojote" festhält.

Hunde kommen auch in Bärbel Rothhaars Arbeiten auf Papier vor, in Mischtechnik oder mit Tusche.

 

Quiet Hour, 2020 © Bärbel Rothhaar

Hund, 2018 © Bärbel Rothhaar

 

Weniger emotional herausfordernd ist eine Serie von Aquarellen auf A4-Papier, die ab Sommer 2020 enstand und Mensch-Tier-Metamorphosen zum Inhalt hat, darunter vier mit Hunden. Der Mensch ist schon so lange mit dem Hund verbunden, dass die beiden Spezies eine große Nähe und gegenseitiges Verstehen entwickelt haben. Ja es kommt sogar zu physiognomisch frappierenden Ähnlichkeiten. Das bringt die Künstlerin mit viel Humor und genauer Beobachtung z.B. bei "Dog Lady" oder "Bulldog Man" zum Ausdruck. Hätte Letzterer andere Ohren, würde ich meinen Onkel erkennen!

 

Bulldog Man, 2020 © Bärbel Rothhaar

Dog Dancer, 2020 © Bärbel Rothhaar

Dog Lady, 2020 © Bärbel Rothhaar

Hundemetamorphose, 2020 © Bärbel Rothhaar

 

 

Bärbel Rothhaar widmet sich in ihrer Arbeit als bildende Künstlerin experimentellen Kunstformen, wie beispielsweise prozesshaften Arbeiten im Bereich Kunst und Natur, u.a. Kunstprojekten mit Bienenvölkern. Sie zeichnet (analog und digital), malt und beschäftigt sich mit Enkaustik, der Malerei mit erhitztem, pigmentiertem Wachs.

In den Jahren der Auseinandersetzung mit Bienen spielten für Bärbel Rothhaar viele Faktoren und Ereignisse eine Rolle, die den künstlerischen Prozess motiviert und in Gang gehalten haben:

Zuerst beschäftigte sie sich mit der überaus vielfältigen Bienensymbolik in allen Kulturen. Ab 1999 begann sie mit lebenden Bienenvölkern zu experimentieren. Sie setzte unterschiedliche Objekte - Zeichnungen, Knochen, Metallobjekte - in die Bienenkästen ein und ließ sie von den Bienen verändern und überbauen. Es ging bei dieser "Wildwuchs" genannten Kooperation um den Dialog ihrer eigenen künstlerischen Intention mit natürlichen Prozessen, die nicht immer kontrollierbar waren.

Einige Methoden ihrer Arbeit näherten sich fast der naturwissenschaftlichen Forschung an, ohne das Gleiche zu sein. Dazu gehören Fragestellungen als Motivation und Ausgangspunkt der Arbeit, Interesse am Prozessualen, aber auch Versuchsreihen und Selbstversuche. In "Sleeping in a Beehive" lebte die Künstlerin einige Wochen mit einem Bienenvolk in ihrer Wohnung.

Näheres über Bärbel Rothhaars Bienenprojekte können Sie auf ihrem Blog oder auf ihrer Homepage nachlesen.

Bärbel Rothhaar (*1957 in Rockenhausen/D) hat Bildende Kunst an der Universität der Künste Berlin studiert und anschließend am Whitney Museum Independent Study Program in New York teilgenommen. Sie erhielt zahlreiche Stipendien, u.a. von der Studienstiftung des Deutschen Volkes, dem DAAD, der Karl-Hofer-Gesellschaft Berlin sowie dem Hanse-Wissenschaftskolleg. Seit 1980 stellt sie im In- und Ausland aus und führt Projekte durch.

 

alle Bilder © Bärbel Rothhaar

 

Malerei, Skulptur, Zeichnung
25. Februar 2021 - 12:33

Nach und nach werden immer mehr Künstlerinnen wiederentdeckt und mit Werkschauen präsentiert. Eine davon ist Ottilie W. Roederstein, deren strenge Selbstporträts mein Interesse weckten. Da sie auch ein paar Hunde gemalt hat, Grund genug, sie im Blog zu zeigen.

Ottilie W. Roederstein (*1859 in Zürich/Schweiz, gest. 1937 in Hofheim am Taunus/D) widmete ihr ganzes Leben der Kunst.

 

Mein ganzes Interesse war Arbeit und Arbeit. Ihr widmete ich mein ganzes Sein. (Ottilie W. Roederstein)

 

Als freischaffende Malerin gehörte sie zu den erfolgreichsten Künstlerinnen ihrer Zeit. Sie fand nicht nur in der Schweiz und Deutschland großen Zuspruch und Anerkennung für ihre Porträts und Stillleben, sondern auch in Paris, wo sie seit 1883 ihre Gemälde ausstellte. Der Erfolg sicherte ihr finanzielle Unabhängigkeit, sodass sie sich gesellschaftliche Freiräume erobern und sich nach ihrem Lebensentwurf entfalten konnte, was den meisten ihrer Zeitgenossinnen verwehrt war.

Als einzige Künstlerin vertrat sie 1912 die Schweiz bei der "Internationalen Kunstausstellung des Sonderbundes" in Köln - neben männlichen Kollegen wie Ferdinand Hodler und Giovanni Giacometti. Trotz ihrer einst internationalen Wertschätzung ist Roederstein fast unmittelbar nach ihrem Tod in Vergessenheit geraten.

In ihrem umfangreichen, in thematischer und stilistischer Hinsicht vielfältigem Œuvre spiegeln sich die modernen Entwicklungen des europäischen Kunstgeschehens, wobei sich Ottilie W. Roederstein zeitlebens im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne bewegte und nie zur künstlerischen Avantgarde gehörte.

Ein Jahr nach ihrem Tod wurden ihr 1938 in Erinnerung an ihr künstlerisches Vermächtnis und an ihr unermüdliches Engagement als Mittlerin zwischen der Schweiz und Deutschland in Frankfurt, Zürich und Bern Gedenkausstellungen ausgerichtet.

Durch die Zäsur des Zweiten Weltkriegs und die allgemeine Fokussierung des Kunstbetriebs auf abstrakte Malerei geriet Roedersteins Werk jedoch in Vergessenheit. Nun, nach über 80 Jahren, ist ihr Werk in einer monografische Werkschau im Kunsthaus Zürich wiederzuentdecken.

 

Ottilie W Roederstein, Jeanne Smith mit Hund, 1889

 

Roederstein, die gegen den Widerstand ihrer gutbürgerlichen Familie Künstlerin wurde, musste sich ihren Lebensunterhalt als freischaffende Künstlerin selbst verdienen. Dementsprechend arbeitete sie gezielt für den Kunstmarkt und hielt sich in ihren frühen Jahren an die malerischen Konventionen und Erwartungen des jeweiligen Auftragsumfeldes. Sie bediente den Geschmack des bürgerlichen Publikums, das ihre Bilder kaufen sollte.

Dies zeigt sich zu Beginn ihrer Karriere durch den Einsatz einer dunkeltonigen Farbpalette sowie durch die Wahl ihrer Bildsujets: den Porträts und Stillleben.

Im Porträt der "Jeanne Smith mit Hund" von 1889 sehen wir ein melancholisches Damenbildnis in altmeisterlichen Hell-Dunkel-Inszenierung. Der Setter wird an der kurzen Leine gehalten und scheint sich gegen den ausgeübten Druck zu stemmen. Im Gegensatz zu dem seelenvollen Blick von Jeanne sieht er uns missmutig und unwirsch an.

In ihrem späteren Werk nahm Roederstein zunehmend Elemente anderen Kunstrichtungen auf. Auch die Temperamalerei, die sie ab 1910 (wieder) einsetzte, übte einen Einfluss auf ihren Stil aus, bevor sie in den 1920er-Jahren zu der ihr eigenen sachlich-nüchternen Bildsprache fand.

 

Ottilie W. Roederstein, Elisabeth H. Winterhalter mit Schäferhund, 1912

 

1912 entstand das Gemälde "Elisabeth H. Winterhalter mit Schäferhund". Es stellt Roedersteins Lebenspartnerin - eine Gynäkologin und erste deutsche Chirurgin - dar, mit der sich die Künstlerin 1909 im ländlichen Hofheim am Taunus niedergelassen hatte. Roederstein und Winterhalter unterstützten sich gegenseitig, stießen in traditionell Männern vorbehaltene Disziplinen vor und machten in Kunst und Medizin Karriere.

Im Porträt sind schon Nüchternheit und Realismus angedeutet; die Künstlerin sollte sich später mehr und mehr dem Stil der Neuen Sachlichkeit nähern. Sowohl die Temperamalerei als auch die intensive Beschäftigung mit der italienischen Zeichenkunst der Renaissance erzeugten einen plastischen und fast linearen Stil in heller getrübter Farbigkeit. Allerdings greift Roederstein nicht auf die Idealisierung der Renaissance zurück. Ohne jede Idealisierung hat sie nicht nur sich in zahlreichen Selbstporträts, sondern auch die Erscheinung ihrer Freundin gemalt. Die Dargestellte schaut ihre BetrachterInnen skeptisch, kritisch, ja mit nahezu abschätzigem Blick an.

Dem ergebenen Schäferhund wird nicht so viel (künstlerische) Aufmerksamkeit zuteil, sein Kopf ist flächig-expressiv gestaltet und hat mit der schlichten Kleidung und dem einfachen Hintergrund malerisch mehr gemeinsam als mit Elisabeths Gesicht.

 

Ottilie W. Roederstein, Zwillinge mit Wolf und Peitsche, 1916

 

Die "Zwillinge mit Wolf und Peitsche" von 1916 sind sorgfältig durchkomponiert, sie bilden eine Dreiecksform, wobei das Kleid des rechten Mädchens wegsteht, um den symmetrischen Aufbau nicht zu gefährden. Peitsche und Federn verstärken die Vertikalität. Während das rechte Kind durch seinen abwesenden Gesichtsausdruck und seine unsichere Handhaltung auffällt, ist der kritische Blick ihrer Schwester direkt zum Betrachtenden gerichtet. Auch der schmale "Wolf" schaut ernst. Mit der monochromen Farbgestaltung ist Roederstein hier auf der sicheren Seite.

Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz war Roederstein eine feste Größe im Kulturbetrieb. Die vielbeschäftigte Porträtmalerin förderte durch Ankäufe für ihre eigene Sammlung andere Kunstschaffende, unterstützte Ausstellungen moderner französischer und Schweizer Kunst und setzte sich für deren Verbreitung ein.

Bis zum 5. April 2021 ist sie im Kunsthaus Zürich zu sehen, dann kommt die Ausstellung unter dem Titel "Frei schaffend" ins Staedel Museum nach Frankfurt am Main (zu sehen vom 19. Mai bis zum 5. September 2021).

Quellen: Wikipedia, Kunsthaus Zürich, Staedel Musem, ARTinWORDS

Fotos von hier

 

Ausstellung, Malerei