6. Juni 2022 - 8:25

Was machen die beiden kostümierten Pudel vor dem Krokodil? Dieser Frage wollte ich nachgehen, nachdem ich das erste Mal die Serie "Melting Plot" (2020) von Beáta Hechtová gesehen hatte.

 

Detail der Serie Melting Plot © Beáta Hechtová

 

Bevor Beáta Hechtová mit der Arbeit an einem Werk beginnt, erstellt sie eine digitale Collage aus Fotos, die sie aufgenommen oder aus dem Internet heruntergeladen hat. Um bestimmte Positionen oder Ausdrücke von Menschen zu erhalten, fotografiert sie Fremde oder bittet Freunde, für sie zu posieren.

 

Ich kann Stunden damit verbringen, Bilder von verkleideten Welpen, seltsam aussehenden Tieren, fleischfressenden Pflanzen, lustigen Masken, Regenbogen-Cupcakes, Einhörnern, Robotern auf dem Mars, die Selfies machen, einfach alles, was diese verrückte Internetwelt an verrückten Dingen zu bieten hat, zu googeln. Dann übernimmt ein Bildbearbeitungsprogramm die Rolle des Bleistifts, während ich das Material verändere, kombiniere, einzeichne und für eine mögliche Weiterverwendung aufbewahre. (zit. n. Les Nouveaux Riches, übersetzt mit DeepL.com)

 

Damit wäre meine Frage beantwortet. Ausgangsmaterial für ihre Arbeiten ist eine ständig wachsende Sammlung von Fotos, Screenshots, Videos aus den digitalen Medien. Inhaltlich wird sie von Geschichten von Menschen, verschiedenen Traditionen und Religionen, Ritualen, Legenden, Mythen, Märchen, Tieren und Technologien inspiriert.

Die Collage wurde für die Künstlerin das am besten geeignete und ihren Motiven entsprechende Werkzeug: Geschichten, Zeiten, Kulturen, alles verschmilzt miteinander. Der Titel der Serie, der auch das Pudelbild angehört, heißt dementsprechend "Melting plot": Schmelztiegel.

 

Detail der Serie Melting Plot © Beáta Hechtová

 

Auffällig sind die leuchtenden, kontrastreichen Farben der Popkultur, denen jegliche Zwischentöne fehlen. Sie stellt ihre in der Gestik expressiven Figuren in mehreren leuchtenden Farben dar. Mich erinnern die menschlichen Körper an Aufnahmen einer Wärmebildkamera. Hysterisch heischt die Farbe nach Aufmerksamkeit, nirgends findet das Auge Ruhe oder Entspannung. Die Farbe lenkt vom Inhalt ab und verweist damit auf die visuellen Strategien der Pop-Kultur.

Die Szenerien in Melting Plot basieren größtenteils auf Fotografien, die Beáta Hechtová während eines Aufenthalts im südamerikanischen Amazonas-Regenwald gemacht hat. Sie hat Fotos von verschiedenen Menschen, Tieren, Gegenständen und Orten collagiert und durch Bilder aus dem Internet ergänzt. Ihre Strategie ist es, Teile aus verschiedensten Kontexten zusammenzufügen, sodass möglichst unwahrscheinliche Kombinationen, Widersprüche und absurde Situationen entstehen.

Mögliche Widersprüche und Dichotomien, die unterschiedliche, aber auch überlappende und kommunizierende Realitäten bilden, sind  Stadt - Natur, Utopie - Dystopie, Spiritualität - Materialismus, Individualismus - Masse, Tragödie - Komödie.

Wie sieht es nun mit unseren Pudeln aus? Die Hunde dienen lediglich als Irritationsmoment, als skurriles Element sowie zur Darstellung eines Gegensatzes. Mir drängt sich folgende Frage auf? Gehören die Hunde in die Wildnis des Regenwalds oder in die Wildnis des Großstadtdschungels? Der Natur-Kultur-Widerspruch tritt als Ambivalenz in den Hunden selbst auf, sind sie doch artifiziell kostümiert. Können die Hunde noch der Natur zugeordnet werden oder gehören sie bereits zu einer urbanen Familienkultur?

Beáta Hechtová wurde im Amazonasgebiet von der Erfahrung des täglichen Lebens inspiriert, in der die Korrespondenz mit der Natur von grundlegender Bedeutung ist und in der das Eindringen von Technologie und Aspekten des städtischen Lebens seltsame Mischungen hervorbringt. In ihren Gemälden stellt sie diese Mischungen, dekontextualisierte Geschichten, versteckte Identitäten, absurde Situationen und unwahrscheinliche Kombinationen dar.

Beáta Hechtová, (*1991 in Prag/Tschechische Republik) hat ihren Bachelor in Illustration und Grafik an der Universität von Westböhmen in Pilsen/Tschechien gemacht; 2014 zog sie nach Wien, wo sie 2020 ihr Diplomstudium an der Universität für angewandte Kunst an der Abteilung für Druckgrafik abschloss. Als globale Nomadin reiste sie viel und lebte längere Zeit in Peru, Spanien und den USA. Die Eindrücke, die sie in ihren unterschiedlichen Lebenswelten gesammelt hat, scheinen in ihren Gemälden, Drucken und Installationen auf. Sie lässt sich aber auch von der lebhaften Atmosphäre und der kulturellen Vielfalt Wiens inspirieren, wo sie zurzeit lebt und arbeitet.

Quellen: Homepage der Künstlerin, Les Nouveaux Riches Magazine, Galerie Rudolf Leeb, Hochschule für angewandte Kunst

 

alle Bilder © Beáta Hechtová

 

Collage, Grafik, Malerei
30. Mai 2022 - 9:56

Homo Homini Lupus, 2011, Video Still © Filippo Berta

 

Filippo Berta untersucht Menschen und Tiere in ihren Bewegungen und Handlungen. Seine Werke und sein künstlerischer Prozess heben die sozialen Spannungen, Widersprüche und Dualismen hervor, die durch die Beziehungen zwischen Individuen und ihren jeweiligen Gesellschaften entstehen. Er befragt die oft konfliktreichen und problematischen Grenzen, die diesen dialektischen Zustand definieren. Die Protagonisten machen sich in der Masse - in der Gruppenperformance - zum Träger von Bedeutungen und Unterschieden.

Seine Werke sind hauptsächlich kollektive Performances, die Filippo Berta in einem einzigen ikonografischen Bild oder in einem kurzen essenziellen Video zusammenfasst.

Eines dieser Videos ist "Homo Homini Lupus" von 2011. Obwohl über zehn Jahre alt, hat es nichts von seiner Bedeutung oder Aktualität eingebüßt.

 

Homo Homini Lupus, 2011, Video Still © Filippo Berta

 

Nach einem zweieinhalb Jahre langen Vorbereitungs- und Auseinandersetzungsprozess mit den Themen Heimat und Nation hat Berta 2011 "Homo Homini Lupus" gedreht. In dieser Videoperformance sind nicht Menschen, sondern Wölfe die Protagonisten, da der Künstler eine Ähnlichkeit zwischen dem Wolf und dem Menschen sieht; auch der Wolf muss in einer Gesellschaft mit klar definierten Regeln leben - mit Ausnahme des "einsamen Wolfs", der diese Regeln verwirft, aber als Ausnahme die Regel bestätigt. Außerdem wollte Berta, dass die Handlung instinktiv und nicht gespielt sein sollte.

Innerhalb des Rudels, einer Metapher für die menschliche Gesellschaft, wetteifern die Mitglieder eifrig um eine Fahne. Das Umland ist eine trostlose Einöde, ein verwüstetes Land, das zunächst als Territorium und dann als Nation gesehen wird.

Drei Wölfe kämpfen aggressiv um die Macht. An ihrer Beute - einer italienische Flagge - reißen sie so wild, als wäre sie die einzige Quelle des Überlebens. Das Wolfsrudel ist eine kleine homogene Gemeinschaft, in der nicht die Solidarität, sondern das Recht des Stärkeren zählt, in der man sich behaupten, für sich und sein Territorium streiten muss, wenn man nicht untergehen will. Dazu der Künstler:

 

Questo video mostra una collettività omogenea che nasconde in sé diverse identità le quali, eccitate da un istinto violento di sopravvivenza, strappano e accumulano le risorse altrui, per poi imporre il proprio potere. La bandiera — contesa e non gratuitamente violentata — nel video esprime un doppio significato, perché nella storia dell’uomo ha sempre definito un territorio entro cui avviene questa lotta fratricida e simboleggia l’imposizione del proprio potere sugli altri. Qualsiasi bandiera riassume nei suoi colori queste caratteristiche. (Filippo Berta zit. n. Flash Art)

 

Dieses Video zeigt ein homogenes Kollektiv, das in sich verschiedene Identitäten verbirgt, die, erregt von einem gewalttätigen Überlebensinstinkt, die Ressourcen der anderen zerreißen und anhäufen, um dann ihre eigene Macht durchzusetzen. Die Flagge - umstritten und nicht grundlos vergewaltigt - hat in dem Video eine doppelte Bedeutung, denn sie hat in der Geschichte der Menschheit immer ein Territorium definiert, in dem dieser Bruderkampf stattfindet, und sie symbolisiert die Auferlegung der eigenen Macht auf andere. Jede Flagge fasst diese Eigenschaften in ihren Farben zusammen. (übersetzt mit DeepL.com)

 

Homo Homini Lupus, 2011, Video Still © Filippo Berta

 

Filippo Berta und das Museion, das Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in Bozen, wurden 2017 für die Videopräsentation von "Homo Homini Lupus" im Rahmen der Ausstellung "Hämatli & Patriae" und der darin zu sehenden Zerstörung der italienischen Fahne von rechtspopulistische Seite - von den Fratelli d’Italia - scharf kritisiert. Die Ausstellung thematisierte Begriffe wie Heimat, Ortszugehörigkeit und Vaterland im Lichte der aktuellen Fluchtbewegungen in Europa. Filippo Berta räumte ein, dass die Verwendung der gewalttätig zerrissenen italienischen Flagge eine Verachtung der nationalen Identität impliziert.

 

Homo Homini Lupus, 2011, Video Still © Filippo Berta

 

Filippo Bertos Arbeit bzw. der Werktitel "Homo Homini Lupus" bezieht sich auf Thomas Hobbes staatstheoretische Schrift "Leviathan" aus dem Jahre 1651.

In "Leviathan"  legt der englische Philosoph den Grundstein für seine Theorie des Naturzustands, in dem die Menschheit ohne Gesetz und ohne Staat lebt. Im Naturzustand wird der Mensch als frei von Einschränkungen der historischen Moral, der Tradition, des Staates oder etwa der Kirche vorgestellt. Aus Hobbes’ Menschenbild ergibt sich, dass in einem solchen Naturzustand Gewalt, Anarchie und Gesetzlosigkeit, ein ständiger Zustand des Krieges (bellum omnium contra omnes) herrschen, in dem "der Mensch dem Menschen ein Wolf ist" (homo homini lupus).

Filippo Berta greift das Hobbes'sche Thema auf. Um die Bestialität (ferinitas) des Menschen zu visualisieren, bedient sich der Künstler des Wolfsrudels, das um die italienische Fahne kämpft.

In der Hobbes'schen Welt besteht der einzige Ausweg aus diesem ständigen Kriegszustand in der Schaffung eines Staates, der in der Lage ist, die Vielzahl der Einzelwillen auf einen einzigen Willen zu reduzieren und Recht und Gesetz durchzusetzen und in dem es rational ist, ihnen gemäß zu handeln. Erst dadurch, dass mehrere Menschen beschließen, gemeinsam einen politischen Körper zu bilden, kann der Naturzustand überwunden und der Übergang zum Staat geleistet werden.

Diese Lösung wird von Berta durch das emblematische Symbol der Flagge in Frage gestellt, die in dieser allegorischen Inszenierung, die den Naturzustand über den Rechtsstaat stellt, immer präsent ist.

Die Aktion hat kein logisches Ende und verbirgt in sich den menschlichen Dualismus, der durch die Logik des "Rechtsstaats" und die Irrationalität des "Naturzustands" repräsentiert wird.

 

Homo Homini Lupus, 2011, Video Still © Filippo Berta

 

Filippo Berta (*1977 in Treviglio/Italien) hat einen Abschluss in Theorie und Praxis der zeitgenössischen künstlerischen Sprachen der Akademie der Schönen Künste in Bergamo. Er ist Professor an der Stiftung für Fotografie in Modena, Italien. Er lebt und arbeitet in Bergamo und wird von der Prometeo Gallery vertreten.

 

 

Quellen: Flash Art, Dalloul Art Foundation, Prometeo Gallery, Il Giornale

Video und Video Stills © Filippo Berta

 

Performance, Video
23. Mai 2022 - 10:13

Etude, 2019 © Gabriele Grones

 

Dieses Ölgemälde eines Hundes hat den Titel "Etude" - welche Tiefstapelei - und ist nur 23 x 25 cm groß!

Es erinnert mich sehr an meine verstorbene Hündin Lucy. Und ja, ich habe bemerkt, dass es sich um einen Rüden handelt. Dennoch …

Ich bin oberflächlich in das künstlerische Universum des italienischen Malers Gabriele Grones eingetaucht. Zwei Themen beschäftigen ihn: Porträts und Naturszenen, die er in einer hyperrealistischen, fast fotografischen Technik ausführt. Beiden widmet er sich mit der gleichen Hingabe und Akribie. Das Hundebild stellt inhaltlich eine Ausnahme dar. Er hat es eigens für eine Ausstellung angefertigt.

In seinen "Porträts" von Pflanzen, Blättern und Grashalmen ("Frammenti") erforscht er die Komplexität der natürlichen Welt, indem er die Schönheit der Natur in Nahaufnahme und im Detail anhand von undramatischen und als unbedeutend geltenden Naturausschnitten darstellt. Dabei bezieht er sich, neben Dürers "Grasstück", auf die Schriften des Heiligen Ignatius von Loyola, der den Menschen dazu anregte, mit einem intensiven und tiefgründigen Blick zu schauen und in allen Dingen eine göttliche Präsenz zu finden.

 

Frammento © Gabriele Grones

 

Beim menschlichen Porträt entwickelt er oft Bildserien derselben Person in leicht unterschiedlichen Posen und Lichtverhältnissen. Die obsessive Darstellung des Gesichts in akribischen Klein- und Mittelformaten und die fehlende Kontextualisierung ermöglichen es dem Künstler, die Bilder in eine metaphysische Atmosphäre zu tauchen.

 

o.T. © Gabriele Grones

 

Gabriele Grones, (*1983 in Arabba/Italien) erhielt seine Ausbildung am Liceo Artistico Statale und an der Accademia di Belle Arti in Venedig, wo er 2009 seinen Abschluss machte. Er nahm bereits zweimal an der Biennale von Venedig teil (Atelier Aperti, 2005 und Padiglione Accademie, 2011). Grones stellt in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen national und international aus. Er lebt und arbeitet zwischen Rovigo, Mailand und New York.

 

alle Bilder © Gabriele Grones

 

Malerei
16. Mai 2022 - 9:18

Vielleicht habe ich schon einmal erwähnt, dass ich Kunstlehrerin bin (in Österreich heißt das Fach Bildnerische Erziehung). Während des Corona-bedingten Distance Learnings habe ich mit meinen 15jährigen Schülern und Schülerinnen die "Family Portraits" der italienischen Fotografin Camilla Catrambone besprochen und sie aufgefordert, von sich Selbstporträts aus Dingen zu erstellen.

Catrambone hat in ihrer Serie die Verwandten durch (Haushalts-) Gegenstände dargestellt, die für die Personen wichtig sind. Dabei ordnete sie die Gegenstände zu einer sorgfältigen Komposition. Jeder Betrachtende kann sich selbst ein Bild davon machen, wie der Besitzer/die Besitzerin dieser Gebrauchsgegenstände real aussehen würde. Der Glaube an die Fähigkeit der Dinge Informationen über den Besitzer zu bringen ist kulturell gefestigt. Trotzdem bleibt die Frage, ob in den Arbeiten Rollenbilder oder Individualität transportiert wird.

 

Family Portraits, 2013 © Camilla Catrambone
Family Portraits, 2013 © Camilla Catrambone

 

Ich glaube nicht, dass Menschen ohne Hund meinen Blog lesen. Deshalb renne ich sicher offene Türen ein, wenn ich Ihnen erzähle, dass auch Hunde eigenen Persönlichkeiten und Charaktere haben. In "A Dog‘s Life" hat Alicia Rius Catrambones Methode (vermeintlich) auf Hunde angewendet und dabei unterschiedliche Hundetypen und -rassen dargestellt. Im Unterschied zu Catrambones Serie zeigt Alicia Rius allerdings beides: die Hunde und ihre Welt, d.h. die Gegenstände, die ihre Persönlichkeit definieren.

Jeder Hund hat oder tut bestimmte Dinge in seinem Leben, die definieren, wer er ist oder was er gerade durchmacht. Alicia Rius traf sich zu Gesprächen mit den HundehalterInnen, schaute sich die Besitztümer jedes Hundes an, um zu verstehen, inwieweit sie zu dem passten, was der Besitzer über den Lebensstil und die Persönlichkeit seines Hundes zu sagen hatten.

 

Just like humans, dogs form attachments to their personal possessions and can give the viewer deeper insight into their identity. The items that shape their daily routine, that they carry, keep, and even eat- give us a glimpse into their hearts and minds. They show us what makes them most proud or happy and even puts their vulnerability on display. (Alicia Rius zit. n. hier)

Genau wie Menschen hängen auch Hunde an ihren persönlichen Gegenständen und können dem Betrachter einen tieferen Einblick in ihre Identität geben. Die Gegenstände, die ihren Alltag prägen, die sie bei sich tragen, aufbewahren und sogar essen, geben uns einen Einblick in ihr Herz und ihren Verstand. Sie zeigen uns, was sie am meisten stolz oder glücklich macht und stellen sogar ihre Verletzlichkeit zur Schau. (übersetzt mit Deepl.com)

 

Die Gegenstände, die zu jedem Hund gehören, zeigen uns also, was der Hund wirklich ist und wie sich sein reales Leben darstellt. Die künstlerische Aufreihung der persönlichen Dinge des Hundealltags zeugt von viel Liebe und Humor der Fotografin. Die fotografischen Ansammlungen sind überaus liebenswert, entzückend, einfühlsam, berührend.

Sie merken, ich bin von ihrer Serie begeistert und kann mich an den Dingen, die sie für ihre Protagonisten ausgesucht hat, gar nicht sattsehen. Meine besondere Liebe gilt den alten Hunden. Deshalb ist auch "Der Senior" mein Lieblingsfoto, dicht gefolgt von "Der Streuner".

 

The Senior, 2018 © Alicia Rius

 

Der Senior: Haben Sie die kleinen Röntgenbilder mit den zarten, zerbrechlichen Hundepfotenskeletten von Magda, einem 13 Jahre alten Spaniel-Dackel-Mix gesehen? Magda wurde als kranker Hund im Tierheim abgegeben und lebt inzwischen bei einer Pflegemutter. Seither hat sie einen Weg voller Tierarztbesuche, Medikamente, Hautbehandlungen und täglicher Injektionen hinter sich, um wieder auf die Beine zu kommen. Doch trotz ihrer schmerzhaften Geschichte wird sie von Liebe und Hoffnung angetrieben.

 

The Neurotic, 2018 © Alicia Rius

 

Der Neurotische: Bär ist eine 4,5 Jahre alte Englische Bulldogge. Die Rasse ist für ihre Sturheit bekannt. Wenn er nicht bekommt, was er will, kaut er stattdessen auf allem herum, dessen er habhaft werden kann.

 

The Stray, 2018 © Alicia Rius

 

Der Streuner: Der Streuner heißt Marmaduke und ist ein 7,5 Jahre alter geretteter Pitbull-Mix, der aufgrund seiner Rasse ausgesetzt wurde und als Restefresser überleben musste. Das harte, ermüdende und hoffnungslose Leben auf der Straße hat Alicia Rius mit all dem verdorbenen Essen illustriert, das er vor seiner Rettung zu sich nahm. Doch Obacht: Die Karotte hat er nicht angerührt.

 

The Fetcher, 2018 © Alicia Rius

 

The Fetcher (Er holt/bringt die geworfenen Bälle. Dafür finde ich kein passendes deutsches Nomen): Knuckles, der 7 Jahre alte Australian Shepherd, ist energiegeladen, intelligent und davon besessen, Frisbees und Bälle zu apportieren. Trainiert wird mit Leckerlis (Beutel). Die Medaillen zeigen, wie gut er bei Wettbewerben ist.

 

The best in show, 2018 © Alicia Rius

 

Der Ausstellungsbeste: Zig, der afghanische Windhund, verbringt die meiste Zeit seines dreijährigen Lebens damit, auf Hundeausstellungen um den Titel "All-Breed Show" zu kämpfen und zu gewinnen! Bei dieser Veranstaltung werden die Hunde danach beurteilt, inwieweit sie mit dem Perfektionsstandard ihrer Rasse konform gehen. Bemerken Sie den eleganten grauen Hintergrund, auf dem seine Utensilien aufgereiht sind?

 

The Princess, 2018 © Alicia Rius

 

Die Prinzessin: Der junge weiße Malteser-Shih Tzu-Mix Lola Rose ist verwöhnt und wird wie eine Prinzessin behandelt. Selbstverständlich hat er einen eigenen Instagram-Account! Seine Tasche stammt von Pawda!

Wenn ich mir die Besitztümer der Hunde ansehe, merke ich erst, was für ein einfacher, bescheidener Hund meine Hedy ist. Ihr gehören zwei Stofftiere, ein "Furminator" - eine Bürste zur Fellpflege (Huskie!) - und ansonsten nur Verbrauchsgüter: ein Kübel mit Leckerlis, getrockneter Pansen, Ochsenziemer, getrocknete Schweinsohren, Rinderkopfhaut und Stinkestangerl.

Bitte schauen Sie sich die ausführliche Making-of-Dokumentation auf Alicia Rius' Blog an. Niemals hätte ich erwartet, wie aufwändig es war, dieses Projekt durchzuführen.

Interessant ist auch, dass der Impuls zur Arbeit nicht von Camilla Catrambone kommt, wie ich vermutet hätte, sondern von Gabriele Galimberti und deren Serie "Toy Stories". Über zwei Jahre lang hat sie mehr als 50 Länder besucht und farbenfrohe Bilder von Kindern mit ihren Spielsachen gemacht und die spontane und natürliche Freude und den Stolz festgehalten, die Kinder empfinden, wenn sie ihre Besitztümer herzeigen.

 

Toy Stories © Gabriele Galimberti

 

alle Fotos © Alicia Rius

 

Fotografie
9. Mai 2022 - 9:48

Captivity I, 2017 aus Myth of the Flat World © Morgan Barrie

 

Schon auf den ersten Blick hat Morgan Barries Foto etwas Artifizielles. Der Eindruck ist berechtigt, da es sich um eine digitale Collage handelt, die ganz unterschiedliche Pflanzen und Tiere auf einem Bild versammelt.

 

Each work is assembled flower by flower so that the final image contains dozens of individual photographs. Native species mix with non-native and even invasive plants, as do human and animal elements. (zit. n. artist statement)

 

Jedes Werk wird Blüte für Blüte zusammengesetzt, so dass das endgültige Bild Dutzende von Einzelfotos enthält. Einheimische Arten mischen sich mit nicht einheimischen und sogar invasiven Pflanzen, ebenso wie menschliche und tierische Elemente. (übersetzt mit DeepL.com)

 

Morgan Barrie erforscht "die natürliche Welt" sowohl als Ideal als auch als Realität. Sie nimmt ihr Ausgangsmaterial selbst auf (Pflanzen etc) und setzt sie digital zusammen.

Ich musste bei Barries Werk sofort an die Blumenstillleben von Jan Breughel d. Ä. denken, der Pflanzen in detailgetreuer Abbildung versammelt, die niemals auf natürliche Weise in einem Strauß vorkommen könnten, da sie zu unterschiedlichen Jahreszeiten, auf unterschiedlichen Kontinenten blühen. Sie deuten auf einen utopischen Zustand der Welt, womit gemeinhin das Paradies gemeint ist. Unten ein Beispiel seiner vielen Blumenstillleben.

 

Jan Bruegel der Ältere, Blumenstrauß in einer Keramik-Vase, nach 1599, Foto Kun

 

Dass es sich um keine Darstellung eines realen Straußes handelt, erkennt man schon daran, dass fast jede Blume zur Gänze zu sehen ist und es kaum Überschneidungen gibt. Diese akribische, virtuose Wiedergabe zeugt vom wissenschaftlichen Interesse der Künstler an der Natur. Die Maler übertreffen allerdings die Natur selbst, indem sie die Pracht von Pflanzen darstellen, die zu verschiedenen Zeiten blühen und deren kostbare Blüten zudem nicht dem natürlichen Verfall unterliegen.

Da Blumen noch nicht gezüchtet wurden, stellten Blumensträuße eine große Besonderheit dar. Sowohl reale Sträuße wie auch gemalte Exemplare wurden als kostbare Rarität empfunden und zeugten von weitreichenden Handelsbeziehungen in ferne Länder. Die Gemälde repräsentierten den Reichtum ihrer Auftraggeber. Sie enthielten aber auch eine Mahnung, da den Gemälden auch Vanitas-Motive, z.B. Insekten, hinzugefügt wurden, die für Vergänglichkeit alles Irdischen stehen.

Tod und Vergänglichkeit ist auch bei Barrie mittelbar präsent - invasive, also eingeführte  Pflanzen, die überhandnehmen, verdrängen andere.

 

A landscape can be read like a text, each element revealing a piece of a narrative. Weeds can tell stories of traveling across continents and displacing other species to dominate their new terrains. Cultivated plants have survived and spread partially through their seduction of human beings, and some animal species are now believed to have partially domesticated themselves. Landscape is something constructed, piece by piece, by many different players. (zit.ebd.)

Eine Landschaft kann wie ein Text gelesen werden, wobei jedes Element einen Teil einer Erzählung offenbart. Unkräuter können Geschichten erzählen, wie sie über Kontinente wandern und andere Arten verdrängen, um ihr neues Terrain zu beherrschen. Kulturpflanzen haben überlebt und sich teilweise durch die Verführung des Menschen ausgebreitet, und von einigen Tierarten wird heute angenommen, dass sie sich teilweise selbst domestiziert haben. Landschaft ist etwas, das von vielen verschiedenen Akteuren Stück für Stück konstruiert wird. (übersetzt mit DeepL.com)

 

Während mich Barries Werk an Breughel erinnert, gibt die Künstlerin selbst Millefleur-Tapisserien (also Wandteppiche der Spätgotik, die Streublumen - tausend Blumen - als Ornament haben) als Ausgangspunkt für ihre Werke an.

In "Captivity I", 2017 spielt Morgan Barrie auf den Wandteppich "The Unicorn in Captivity" (from the Unicorn Tapestries) von 1495–1505 an, der sich im Besitz des Metropolitan Museum of Art befindet. Sie adaptiert die dekorativen Pflanzen des ursprünglichen Wandteppichs, indem sie nordamerikanische Pflanzen einführt, die sie digital auf einen dunklen Hintergrund collagiert. Statt des Einhorns, das für den gezähmten Geliebten steht, befindet sich der angekettete domestizierte Familienhund in der Mitte eines kleinen umzäunten Areals.

 

The Unicorn in Captivity, Foto The Met New York

 

Nochmals zum Vergleich "Captivity I":

 

Captivity I, 2017 aus Myth of the Flat World © Morgan Barrie

 

Ein zweites Beispiel aus der Serie "Myth of the Flat World"

 

Pieces from an Island that is Still Forming II, 2019 (Copy) aus Myth of the Flat

 

Morgan Barries zweite Serie, in der Hunde vorkommen, ist "Arcadia":

Arkadien bezieht sich auf die idyllische Vision einer unberührten Natur und auf die Vorstellung eines Lebens in Harmonie mit der Natur. Es ist ein unerreichbarer Ort, ein verlorener Garten Eden. Schon in der Zeit des Hellenismus wurde Arkadien zum Ort verklärt wo die Menschen unbelastet von mühsamer Arbeit und gesellschaftlichem Anpassungsdruck in einer idyllischen Natur als zufriedene und glückliche Hirten lebten. In der bildenden Kunst und Literatur der Renaissance wurde die griechische Region Arkadien als perfekte und unberührte, unverdorbene Wildnis wiederbelebt.

In diesem fiktiven Arkadien lebten die Menschen in Harmonie mit der Landschaft und anderen Tieren. Selbst heutzutage gibt es eine Vorstellung von einer vergangenen Zeit, in der die Menschen in einer Art Eden lebten, bevor unsere eigene Natur uns daraus verdrängte.

Einerseits möchte der Mensch weitgehend außerhalb der sehr realen und schmerzhaften Zyklen der Natur existieren, andererseits hat er auch eine gleichwertige, aber gegensätzliche Sehnsucht, sich wieder mit der Natur zu verbinden. Die Serie "Arcadia" beschäftigt sich mit diesen zwei gegensätzliche Haltungen, die der Mensch zur natürlichen Welt einnimmt. Barrie  beleuchtet die Schnittstelle zwischen "menschlichen" und "natürlichen" Orten und Seinszuständen. (vgl. artist statement)

The Conqueror, 2014 aus Arcadia © Morgan Barrie

Pet, 2012 aus Arcadia © Morgan Barrie

 

Scott Falls, 2011 aus Arcadia © Morgan Barrie

 

Morgan Barrie reflektiert über die Zukunft unserer Beziehung zur Natur in einer künstlerischen Weise, die durch ihre Schönheit inspiriert und Resonanz findet.

Die in Ann Arbor (Michigan/USA) lebende Künstlerin und Fotografin studierte am Columbia College Chicago, wo sie ihren Bachelor of Arts machte und an der Eastern Michigan University, wo sie im April 2013 ihren MFA-Abschluss in Fotografie erhielt. Ihre Arbeiten werden national und international ausgestellt. Seit 2019 ist sie Assistenzprofessorin an der University of Wisconsin-Stout.

alle Fotos © Morgan Barrie

 

Fotografie
2. Mai 2022 - 8:33

Im Zuge eines vierjährigen Forschungsprojektes, das die Rolle von Malerinnen, Sammlerinnen, Konservatorinnen und Mäzeninnen genauer untersucht, kam das Gemälde "Junge italienische Frau mit Hund Puck" von Thérèse Schwartze aus dem Depot in die Ausstellung des Amsterdamer Reichsmuseums und wurde schnell zum Publikumsliebling. Der Name des dargestellten Hundes ist bekannt, nicht aber der des Modells. Auch danach wird nun geforscht.

Ich kannte zwar das Bild, wusste aber nichts über die Künstlerin. Durch Rodney van den Beemd, der das Gemälde im Rijksmuseum gesehen hatte, kam die Anregung es im Blog vorzustellen.

Thérèse Schwartze (*1851 in Amsterdam/Niederlande, gest. 1918 ebenda) war eine Porträtmalerin, deren Werke den Glamour und Optimismus der niederländischen Elite während der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts einfingen. Sie verband Talent und künstlerische Meisterschaft mit ausgeprägtem Geschäftssinn. Durch Aufträge von wohlhabenden Niederländern und Mitgliedern der königlichen Familie wurde sie sehr wohlhabend. Schwartze erlangte zudem internationales Ansehen, wovon etliche Aufträge aus dem Ausland und Ausstellungen in verschiedenen europäischen Ländern und den USA zeugen.

Auch als sie bereits Millionärin war, ließ Schwartzes Arbeitseifer nicht nach. Ein starkes Streben nach wirtschaftlichem Erfolg - kombiniert mit dem Wissen um die sehr reale Gefahr des Misserfolgs und finanziellen Ruins - zählte zu den hervorstechenden Merkmalen ihrer Persönlichkeit und erklärt, warum Schwartze sich primär Auftragsarbeiten widmete, deren Verkauf zu einem im Voraus vereinbarten Preis gesichert war.

 

Thérèse Schwartze, Young Italian Woman with the Dog Puck, um 1879-1885

 

Thérèse Schwartze malte dieses Modell in italienischem Gewand in ihrem Pariser Atelier. Die junge Frau tauscht einen Blick mit Puck, dem Hund zu ihrer Rechten, aus. Die verschiedenen reichen Stoffe ihres Kleides sind meisterhaft wiedergegeben. Für eine junge Niederländerin war es damals ebenso unkonventionell, in Paris zu arbeiten, wie eine künstlerische Karriere zu verfolgen. Doch als erfahrene Tochter eines professionellen Malers ließ sich Schwartze von solchen Hindernissen nicht abschrecken.

Durch die Kombination von pastosen und feineren Pinselstrichen erzielt Schwartze eine spielerische und lebendige Wirkung. Die puffartig gebundenen Ärmel des Kleides der jungen Frau sind großzügig gemalt, während ihre Hände, ihr Gesicht und ihre Haarlocken sehr detailliert sind.

Die Haltung und der Blick des Hundes erinnert mich an den Hund bei Passerotti, den ich kürzlich vorgestellt habe. Doch während dort bedingungslose gegenseitige Liebe dargestellt wird, sieht die junge Italienerin ein bisschen abschätzig auf den Hund, als wolle sie fragen, was er wolle, und scheint sich über seine Zugewandtheit zu amüsieren.

 

Thérèse Schwartze, Young Italian Woman with the Dog Puck, Detail, um 1879-1885

 

Schwartzes Biografie ist die Geschichte einer einzigartigen Karriere und einer bemerkenswerten Persönlichkeit, die ihrer Zeit voraus war.

Schon als Kind wurde Thérèse von ihrem Vater, dem Maler Georg Schwartze, dazu erzogen, Künstlerin und seine Nachfolgerin zu werden, obwohl die malerische Ausbildung für ein junges Mädchen im 19. Jahrhundert nicht als Beruf, sondern als Teil einer kultivierten Erziehung galt. Geld zu verdienen war nicht die Aufgabe der Frau, sondern die des (Ehe)-Mannes. Aber ihr ehrgeiziger Vater kümmerte sich nicht um die Konventionen der Gesellschaft.

Als er starb, übernahm sie sein Atelier und wurde mit 22 Jahren die Ernährerin der Familie. Ihr Malereibetrieb wurde zu einem echten Familienunternehmen; ihre Mutter kümmerte sich um die Finanzverwaltung und ihre Schwestern halfen beim Kundenempfang.

Bis 1885 arbeitete sie ausschließlich mit Öl, wobei sie die Nass-in-Nass-Technik verwendete. Die Abschnitte, an denen sie arbeitete, mussten in wenigen Tagen vollendet werden, solange die Farbe noch nicht getrocknet war. Als aide-memoires (Gedächtnisstütze) verwendete Schwartze professionell hergestellte Fotografien ihrer Modelle. Später wandte sie sich der Pastelltechnik zu, da sie keine Trocknungszeit erforderte. In nur wenigen Stunden gelang es ihr, ihre Kunden mit sanften Strichen und klaren Tönen zu erfassen. Schwartze war für ihre schnellen Arbeitsmethoden bekannt, sie schuf im Laufe ihrer rund 40 Jahre währenden Karriere etwa 1000 Zeichnungen, Pastelle und Gemälde.

Grund für diese enorme Produktivität scheint ihr unermüdliches Bestreben gewesen zu sein, ihre vielköpfige Familie finanziell abzusichern, vor allem, da sie keinen Ehemann hatte. Sie heiratete erst 1906.

Thérèse war bekannt für ihren geselligen Charakter. Sie knüpfte ein umfangreiches Netzwerk zu prominenten Persönlichkeiten der Kunstwelt, reiste viel, was für Frauen zu dieser Zeit noch ungewöhnlich war. Ihre hochrangigen Kunden empfing sie in einem großen Atelier, das sie später um einen eigenen Ausstellungsraum erweiterte. Aufgrund ihrer Leistungen wurde sie 1896 als erste Frau überhaupt zum Ritter des Ordens von Oranien-Nassau ernannt.

Quellen: Reichsmuseum, Reichsmuseum Sammlung

 

LeserInnen empfehlen, Malerei
25. April 2022 - 10:58

Hunde sind kein Motiv, mit dem sich Cristian Avram auseinandersetzt. Das einzige Werk mit Hund - "Der denkende Hund" - entstand 2019 für die Ausstellung "Cave Canem" in der Galerie Boccanera.

 

Der denkende Hund, 2019 © Cristian Avram

 

Der Rücken des Hundes ist auffällig aufrecht gemalt, sodass diese Perspektive nur stimmig wäre, wenn der Hund mit seinen Vorderbeinen auf einer Erhöhung stünde, worauf nichts hindeutet. Das Tier kann durchaus als Stellvertreter für einen Menschen gelesen werden. Zusätzlich ist die Rückenfigur traditionellerweise die Identifikationsfigur für die Betrachtenden.

Versetzen wir uns also in den Hund/Mensch: Er sieht in die Landschaft hinein, vermutlich auf ein kleines Dorf in Siebenbürgen. Blickt er sehnsüchtig auf den Ort, auf seine Heimat, eine Heimat, die von den großen sozialen und politischen Umbrüchen der letzten Jahrzehnte kaum berührt wird?  Wodurch wird ein Ort zur Heimat, wie wird er vertraut? Will er Abschied nehmen von dort, wo er herkommt, und wirft er einen Blick zurück?

Cristian Avram (*1994 in Alba-Iulia/Rumänien) wuchs auf dem Land in der Nähe von Alba-Iulia in Siebenbürgen auf und beobachtete in der postsowjetischen Ära eine Welt voller Kontraste. Er möchte die möglichen Veränderungen - materiell und immateriell, privat und sozial - in der ländlichen und urbanen Lebenswelt und im Alltagkünstlerisch untersuchen.

2019 schloss er sein Studium der Malerei an der Akademie der Schönen Künste in Cluj-Napoca ab. Er lebt und arbeitet in Cluj-Napoca.
 

Malerei
18. April 2022 - 10:57

Liminal Dog Series, Überblick

 

Als ich Alan Loehles "Liminal Dog Series" erstmals sah, hatte ich sofort den Eindruck, der Künstler zitiere Francis Bacon, Chaim Soutine, Marcel Duchamp … Was meinen Sie?

Die Serie ist über einen Zeitraum von eineinhalb Jahrzehnten entstanden. Ich zeige Ihnen die Arbeiten chronologisch. Im Laufe der Jahre wurden die Hunde - kraftvolle Rottweiler und Bullterrier - wesentlich expressiver. Nicht nur die Hunde zeigen Stärke und strahlen Wildheit aus, auch die Kompositionen besitzen in ihrer düsteren dunklen Stimmung eine formale und brutale Kraft. Die Kadaver weisen auf Verwundbarkeit alles Tierischen, aber auch Menschlichen. Durch sie ist die Sterblichkeit des Hundes vorweggenommen, aber auch der Bertrachter/die Betrachterin wird mit seiner/ihrer Sterblichkeit konfrontiert. Vor dem Tod stehen Einsamkeit und Isolation.

Die Serie heißt "Liminal Dog": Das Wort "liminal" war mir unbekannt und google half mir nicht wirklich weiter. Liminal wird mit "Schwellen-" bzw. "Grenz-" übersetzt und mit anderen Wörtern kombiniert (liminal space etc). Doch welche Grenze überschreitet der Schwellenhund? Welchen Zwischenzustand stellt er dar? Die Grenze zwischen Tier und Mensch, Tier und Fleisch?

 

Box, 1994 © Alan Loehle

 

In "Box" (1994) definieren ein dunkler Hintergrund und schattiger Boden einen Raum mit einem gelben Quader und einem vor Energie vibrierenden Hund. Übereinander gelegte malerische Ebenen erzeugen die kinetische Energie auf der fleischigen Haut, die fast transparent wirkt. Auch der Hintergrund vibriert. Das Tier ist in seiner Bewegung gefangen. Eine Pfote liegt auf dem Quader, der ein enormes Hindernis darstellt.

 

White Dog, 1994 © Alan Loehle

 

Nur der rosarote Mund und die rot umrahmten Augen des weißen Hundes stechen in "White Dog" (1994) heraus. Seine Ohren sind wie nach einem Stromschlag unnatürlich nach oben geklappt, der Schwanz bewegt sich frenetisch. Alan Loehle dekonstruiert die Bewegung, löst sie in Einzelschritte auf. Der Hund tritt aus der Dunkelheit ins Licht. Zeigt das (Strom-)kabel eine Grenze an?

 

Dark Room, 1998 © Alan Loehle

 

Im "Dark Room" (1998) befinden sich drei Spielzeuge, ein Hund, ein (oder zwei?) Kadaver. Der Kadaver ist auf einem Eisengestänge aufgehängt, das sich raumbildend nach allen Richtungen erstreckt und besonders dadurch an die Gemälde von Francis Bacon erinnert. Der Hund scheint im Begriff panisch aus dem Bild zu rennen, die Spielzeuge links liegen lassend. Auch die Kreidespuren auf dem Boden erinnern an eine Grenze.

 

Meat, 1996 © Alan Loehle

 

Auch in "Meat" (1996) ist der weiße Hund allein - zwischen tiefer Dunkelheit und Schatten - mit einem aufgehängten Fleischbrocken, den er mit seinem ganzen Wesen und all seiner Sehnsucht begehrt. Das rote Maul scheint einen ekstatischen Schrei auszustoßen. Hat dieser Hund schon eine Grenze überschritten?

 

Liminal Dog I, 2007 © Alan Loehle

Liminal Dog IV, 2008 © Alan Loehle

Marsyas Dog, 2012 © Alan Loehle

 

Eine Serie, die viel mehr Fragen aufwirft, als ich nur annähernd beantworten kann!

Alan Loehle (*1954 in Chicago/Illinois/USA) erwarb 1975 seinen B.F.A. am College of Georgia und 1979 seinen M.F.A. am College of Arizona. Er lebt und malt seit 1987 in Atlanta, Georgia und erhielt mehrere Stipendien (Guggenheim, Pollock-Krasner, The National Endowment for the Arts, Elizabeth Foundation, Ludwig Vogelstein Foundation). Seine Werke befinden sich in privaten und öffentlichen Sammlungen in den USA und in England. Loehle unterrichtet Kunst an der Oglethorpe University in Atlanta. Er wird von der Marcia Wood Gallery in Atlanta vertreten.

alle Bilder © Alan Loehle

 

Malerei
11. April 2022 - 10:03

Dog Party, 2017 © Nancy Mitchnick

 

Schauen, gehen, laufen, beschnuppern, kacken - das sind die Elemente von Nancy Mitchnicks Hundeparty. Das Bild ist weniger lebhaft als gut durchkomponiert. Auf bestimmenden horizontalen Kanälen, die den Raum gliedern, werden sechs Hunde unterschiedlicher Rasse, Gestalt und Farbe gesetzt. Sie wirken fast wie die Noten auf einer Partitur. Strenge Musikalität trifft auf Leichtigkeit der Farbe: Ein rosafarbener Himmel umschmeichelt die fernen Berge, zartes gelbgrünes Gras wechselt mit blassblauem Wasser.

 

Dog Party, Detail, 2017 © Nancy Mitchnick

Dog Party, Detail, 2017 © Nancy Mitchnick

 

Das Porträt ist durch kühnen Einsatz von Strichen und Farben einer expressiven Hand gekennzeichnet.

 

My beloved Girl, 2017 © Nancy Mitchnick

 

Jeder Hundehalter kann die Sehnsucht, Hoffnung, die Emotionen des Wollens, Müssens, Könnens nachvollziehen, die der Schäferhund beim Gewahrwerden der Gänse, Enten und Schwäne durchlebt und die wir aus seiner Position miterleben. Durch die Bildtitel werden die emotionalen Inhalte humorvoll wiedergegeben.

 

Meine Lexikographie besteht aus Form, Farbe und Raum, natürlich auch aus Farbe, Bewegung und Stille und der Entwicklung meines Wissens auf der Suche nach Einfachheit und Beziehungen, dem Fühlen des Lichts und dem Leben und Beobachten der Welt, erklärt die Künstlerin. (zit. n. hier, übersetzt mit deepL)

 

All das ist wohl in diesen Bildern präsent und erlebbar. Bewegung und Stille: Der Hund schwimmt leise heran, er will den Vögeln nahekommen, aber nicht bemerkt werden. Ich kann förmlich seine Anspannung und Konflikte spüren, seine Gedanken lesen. Anmutig und gelassen gleiten die Enten auf den Wellen. Vollkommene Schönheit bestimmt dieses vordergründig einfache, aber emotional starke Bild.

 

Hope, 2017 © Nancy Mitchnick

 

Die schwer fassbare Schönheit und Sinnlichkeit der lichtgesättigten Farben gibt dem Wasser Frische und Lebendigkeit. Die Bilder wirken leicht, fast zeit- und schwerelos.

 

I can't, I will, I won't, I must, 2017 © Nancy Mitchnick

Desire, 2017 © Nancy Mitchnick

Virginia Woolf #1, 2004-2017 © Nancy Mitchnick

Virginia Woolf #2, 2004-2017 © Nancy Mitchnick

A White Dog, 2017 © Nancy Mitchnick

 

In meiner Arbeit geht es um Wahrnehmung und um Malerei. Ich arbeite in einer visuellen Sprache, die sich nicht leicht in eine kulturelle Analyse übersetzen lässt. Der Maßstab ist sehr wichtig.  Ich male oft kleine Bilder von einem großen Landschaftselement. Ich mag das freie Spiel mit den Gegensätzen. Es bereitet mir große Freude und gibt mir viel Raum. (zit. ebd, übersetzt mit deepL)

 

Ausstellungsansicht, Reyes Finn, Foto Clare Gatto

Ausstellungsansicht, Reyes Finn, Foto Clare Gatto

Ausstellungsansichten Galerie Reyes Finn

 

Nancy Mitchnick (*1947 in Detroit/Michigan/USA) lebt und arbeitet in Detroit. Sie schloss ihr Studium an der Wayne State University mit einem BFA ab. Sie war ein Jahrzehnt lang Mitglied des Lehrkörpers am California Institute of the Arts und 15 Jahre lang Rudolph Arnheim Dozentin für Studio Arts an der Harvard University. Nancy Mitchnick erhielt sowohl als Malerin als auch als Lehrerin viele Stipendien und Preise.

Mitchnick ist eine der wenigen Frauen, die aus der Detroiter Cass-Corridor-Bewegung der 1970er Jahre hervorgegangen sind. Ihr Werk ist frei von Verweisen auf ästhetische Doktrinen und gesellschaftspolitische Themen, die sich oft in den Arbeiten ihrer Zeitgenossen finden.

Sie hat international sowohl in Einzel- als auch in Gruppenausstellungen ausgestellt.

alle Bilder © Nancy Mitchnick

 

Malerei
4. April 2022 - 10:52

Surreal, grotesk, fantastisch, bizarr! Frauenporträts, die statt Köpfen Blumenstillleben, wildes Blätterrankwerk oder Stoffdrapierungen auf dem Hals tragen! Großartig, war mein erster Gedanke, als ich das Werk von Ewa Juszkiewicz entdeckte, diese Künstlerin will ich Ihnen keinesfalls vorenthalten! Erfreulicherweise kommen in ihrem üppigen Werk auch zwei Hunde vor, weshalb ich sie Ihnen hier "unterjubeln" kann. Dem Hund kommt in ihrem Werk allerdings nur mittelbare Bedeutung zu.

In ihrem künstlerischen Schaffen setzt sie sich die polnische Künstlerin mit der Tradition und Entwicklung des Frauenporträts auseinander und interpretiert die aus der Kunstgeschichte bekannten Gemälde neu. Frauen wurden in historischen Gemälden auf eine einheitliche Weise dargestellt, die die gesellschaftlichen Erwartungen an das weibliche Aussehen zeigte: Ihre Posen, Gesten und Gesichtsausdrücke waren sehr ähnlich, Emotionen oder Individualität waren nicht erwünscht, der Selbstausdruck von Frauen in der von Männern erzählten und gemalten Geschichte fehlte zumeist.

Die Damen in den historischen Gemälden, die Ewa Juszkiewicz als Vorlage nimmt, präsentieren sich in gewohnten Umgebungen: auf Plüschmöbeln sitzend, an Hängen mit bukolischen Landschaften im Hintergrund oder einfach eingerahmt von einem neutralen Hintergrund, der ihre farbenfrohen Gewänder und kunstvoll arrangierten Haare betont. Und sie präsentieren sich manchmal mit Hund.

Ewa Juszkiewicz kopiert historische europäische Frauenporträts (die Ehefrauen, Mütter oder Töchter der einflussreichen Männer) - ihre Quellen reichen von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert - ahmt die Technik und den Stil des Originals nach, ersetzt aber das Gesicht der Dargestellten durch surreale oder groteske Veränderungen wie einhüllende Stoffbahnen, üppige Blumenarrangements oder kunstvoll geflochtenes Haar.

Dadurch vermischt die Künstlerin einerseits die Genres Porträt und Stillleben, andererseits definiert sie konventionelle Darstellungen neu und überschreibt/übermalt diesen Kanon der Frauendarstellung.

Die Veränderungen, die sie vornimmt, stören zwar nie die ästhetische Harmonie der Bilder, lösen allerdings Gefühle der Beunruhigung und des Unbehagens aus. Ihre sorgfältig in Pose gesetzten und luxuriös gekleideten Sujets sind hybride Charaktere, die Elemente der Natur und der Kultur vermischen und Bilder der idealen weiblichen Schönheit dekonstruieren.

 

In diesen Gemälden möchte ich durch das Abdecken oder Verändern eines Porträts die bekannte Ordnung stören und das einheitliche und konservative Bild der weiblichen Schönheit erschüttern. Durch eine Metamorphose klassischer Gemälde verändere ich deren Interpretation und wecke neue, alternative Assoziationen. In meinen Gemälden schaffe ich durch die Gegenüberstellung scheinbar unvereinbarer Elemente neue, surreale Bilder, die hybride Charaktere sind und mehrdeutige, oft verstörende oder groteske Assoziationen hervorrufen. Indem ich Elemente aus dem Kanon und der Tradition mit Elementen aus der Natur und den Sinnen verwebe, möchte ich den Ausdruck, die Emotionen und die Vitalität freisetzen, die zuvor durch die Konvention verborgen waren. (Ewa Juszkiewicz zit. n. hier, übersetzt mit DeepL)

 

Untitled, 2013 © Ewa Juszkiewicz

 

Bereits 2013 sind ihre Leinwände von gesichtslosen Frauen "belebt". Die ausgelöschten Gesichtszüge können eine psychische Auslöschung und/oder den gesellschaftlichen Status der Frau symbolisieren. Speziell bei diesem Bild verschwinden auch der Unterkörper und die Beine, auf dem Sessel thront nur mehr eine leere Hülle. Der Hund sitzt auf dem körperlosen Stoff. Fast könnte man meinen, er wende sich auch schamvoll ab.

Der Maler der besseren Gesellschaft - Jan Adam Kruseman - bewunderte die englische Porträtmalerei. Er ließ sein Modell Alida Assink in der neuesten Mode posieren. Die Kleidung verlieh ihr eine stilvolle Silhouette, breite Schultern, Puffärmel und ein Reifrock ließen ihre Taille sehr schmal erscheinen. Die große Gürtelschnalle unterstrich dies noch. Auch die ländliche Umgebung mit einem Jagdhund und einer Gartenvase waren von englischen Vorbildern abgeleitet.

 

Jan Adam Kruseman, Portrait of Alida Christina Assink, 1833

 

Ewa Juszkiewicz jedoch drapiert anstelle des Kopfes und der Schultern der Dargestellten Tücher und Stoffstreifen, die die Farbe der Kleidung wiederaufnehmen, hoch aufragend, dynamisch und wild verschlungen sind. Sie spielen (auch) auf das Ausmaß an, in dem die Identität der Frau durch die Elemente der Kleidung und der Klassensymbole konstruiert wird. Zu diesen nobilitierenden Elementen gehört auch der Jagdhund. Ist sein Blick bei Krusemann noch liebevoll auf sein Frauchen hin gerichtet, wirkt er bei Juszkiewicz durchaus irritiert.

Indem die Malerin das konservative, uniforme Ideal des Abbilds - das selbst eine Art Maske ist - gegen wildes Blattwerk, verworrene Bänder oder Haarmassen austauscht, versucht sie, ihm ein Gefühl von Vitalität und emotionaler Authentizität zu verleihen.

Sie beschreibt ihre visuellen Eingriffe als Protest gegen die stereotype Wahrnehmung von Weiblichkeit.

 

Indem ich bestimmte Muster ersetze, möchte ich die individuelle Identität und Komplexität von Frauen zeigen und ihre Einzigartigkeit betonen. (Ewa Juszkiewicz ebd., übersetzt mit DeepL)

 

o.T (nach Jan Adam Kruseman), 2020 © Ewa Juszkiewicz

 

Ewa Juszkiewicz hat auch Porträts von Élisabeth Vigée-Lebrun verändert. Zufällig war ich während meiner Recherchen zu diesem Beitrag im Kunsthistorischen Museum Wien bei einer Führung zu Geschlechterverhältnissen in der Kunst, bei der auch über eine Darstellung Maria Antoinettes von Vigée-Lebrun gesprochen wurde und ich für hier passende Informationen erhielt. Vigée-Lebrun war Hofmalerin der modisch exzentrischen Maria Antoinette, die so genannte Poufs auf dem Kopf trug: Metallgestelle, in die eigene und fremde Haare hineingeflochten waren und noch mit Objekten, z.B. Schiffen, "bekrönt" wurden. Diese Aufbauten konnten bis zu 90 cm hoch werden. Die so geschmückten Frauen lebten gefährlich, gingen sie an Kerzen vorbei, gerieten die Poufs unter Umständen in Brand und die mit den Haaren verbundenen Gestelle konnten nicht entfernt werden. Nicht wenige Frauen verbrannten an ihrer Selbstgestaltung.

Auch Lisa Small beschreibt in einem Essay die Bedeutung der Haare für seine Trägerin: Wild und geordnet, intim und öffentlich, liegt es an der unscharfen Grenze zwischen Natur und Kultur.

 

Von den berühmten Poufs der 1770er und 80er Jahre - "lächerliche Bauwerke" (so nannte sie ein zeitgenössischer Beobachter), die mit Wollkissen, Puder, Drähten und falschem Haar zu großen Höhen aufgetürmt und mit Früchten, Blumen und sogar ausgestopften Vögeln oder Schiffsmodellen geschmückt wurden - bis hin zu den skulpturalen Locken, Jahrhunderts, die wie ein Baumstamm über den Kopf gelegt wurden, wurde vielleicht keine andere Oberfläche des weiblichen Körpers so auffällig und künstlich manipuliert, wie viele Satiren und Modetafeln zeigen. (Lisa Small zit.n. hier, übersetzt mit DeepL)

 

Die hohen Pflanzen- und Stoffverhüllungen Ewa Juszkiewicz scheinen auch darauf hinzuweisen.

 

Installationsansicht Galerie Gagosian, Kunstwerk © Ewa Juszkiewicz, Foto Rob McK
Installationsansicht Galerie Gagosian, Kunstwerk © Ewa Juszkiewicz, Foto Rob McKeever

 

Ewa Juszkiewicz (*1984 in Danzig/Polen) lebt und arbeitet in Warschau.

Quellen: artnews, lokal 30, artspeak nyc, Gagosian

 

Malerei