Als ich kürzlich die Sammlung Titze im Winterpalais des Prinzen Eugen von Savoyen sah, fiel mir ein gewaltiges Gemälde auf: gewaltig nicht nur in den Ausmaßen (200 x 340 cm), gewaltig auch hinsichtlich des Eindrucks, den es auf mich machte. Es handelte sich um Adrian Ghenies "The Flight Into Egypt". Ghenies Namen hatte ich schon gehört und im tief im Hinterkopf wusste ich, ich hatte den Künstler auch schon in Zusammenhang mit dem Motiv Hund gespeichert.
Ghenie beschäftigt sich mit gesellschaftlicher und politischer Macht und deren Missbrauch, mit Ausbeutung, Unterdrückung, erzwungenem Exil und Migration. Besonderes Augenmerk legt er auf totalitäre Regime, wie es auch das Rumänien seiner Kindheit – er ist 1977 geboren - unter Ceausescu war.
Als Geschichtenerzähler schickt er den Betrachter auf eine Zeitreise, ermöglicht ihm einen Blick auf seine Interpretation der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Sein besonderes Interesse gilt der Kluft zwischen großer "objektiver" Geschichte und subjektiver Erinnerung, der Widersprüchlichkeit der Aufzeichnung und Erfahrung von Geschichte.
In seinen eigenwilligen, komplexen Kompositionen wechselt er zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion. Als Ausgangspunkt dienen ihm historische Fotos, Propagandapostkarten der NS-Zeit, Fotos aus dem Internet, Standbilder aus Filmen, alte Möbelkataloge etc. Die Anleihen aus der Kunst- und Filmgeschichte verbindet er mit persönlichen Erinnerungen, die er teilweise auch zu Collagen oder dreidimensionalen Modellen verarbeitet.
Auch Ghenies Technik ist außergewöhnlich: Er bringt mehrere Lagen Farbe auf und kratzt sie anschließend teilweise mit der Stahlspachtel wieder ab, wodurch einmalige Strukturen mit hohem taktilem und materiellem Reiz entstehen. Die Bilder scheinen bereits eine Patina zu besitzen. In seinen düsteren Szenarien beschränkte Ghenie seine Farbpalette zunächst auf Schwarz und Grau sowie dunkles Rot, erst in jüngerer Zeit hellt er sie zunehmend auf.
Durch die unscharfe Gestaltung historischer Figuren entstehen Porträts, die in ihrer Wirkung verfremdet, mysteriös und verstörend sind. Auch wenn sie nur vage ausgeführt sind, sind die Schreckensgestalten des 20. Jahrhunderts unschwer zu erkennen.
In "The Nightmare" und "The Devil" erkennen wir, obwohl fast als Rückenfigur dargestellt, Adolf Hitler. Sein Bild ist Teil unseres kollektiven Gedächtnisses. Blickt er auf Eva Braun? Befinden sich beide in der Wolfsschanze? Der müde und verschlafen dreinblickende Wolf deutet darauf hin.
"The Dada Room" ist ein Modell der Ersten Internationale Dada-Messe, die 1920 in Berlin stattfand. Ein deutscher Schäferhund ist als Gemälde präsent. In "Dada Is Dead" verwendet Ghenie ein Foto dieser Dada-Ausstellung als Grundlage sowohl für eine Collage als auch für ein Gemälde.
Fast als kometenhaft ist Adrian Ghenies Aufstieg in der internationalen Kunstwelt zu bezeichnen. Nachdem er 2001 sein Studium abschloss, wurde sein Werk bereits ab 2006 in Einzelausstellungen in der Schweiz, den USA, Deutschland, Belgien und Großbritannien gezeigt. 2009 erschien eine Monographie im Hatje Cantz Verlag (vergriffen), 2014 ein Bildband mit neueren Werken von 2009-2013. Auf der Verlagsseite finden Sie auch ein sehr informatives Künstlerporträt von Stefanie Gommel.
Foto von hier
Adrian Ghenie, Foto: Tim van Laere Gallery
Wenn Sie sich mehr für diesen außergewöhnlichen Künstler interessieren, empfehehle ich exemplarisch die Seiten der Galerie Tim van Laere (viel Bildmaterial) sowie der Galerie Nolan Judin (umfassende Information zum Werk).
alle Bilder © Adrian Ghenie
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