"Wie kommt das Reh in dieses Schloss? Wie hat Karen Knorr es nur geschafft, dass es still sitzt (und erst der Fuchs neben dem Hasen)?“, fragte ich mich, als ich das erste Mal zufällig im Internet auf ein Foto der "Fabeln" (2004-2008) stieß. Nach der Irritation kam die "Erleuchtung" - sie hat ausgestopfte Tiere in Schlösser geschleppt und sie in ihrer artfremden Umgebung fotografiert! Doch auch das stimmte nicht.
Karen Knorr, The Wolf's and the Stag's Room (aus der Serie "Fables")
In den klassischen Fabeln von Aesop oder Jean de La Fontaine, aber auch in unserer Alltagskultur (Filme von Disney und Attenborough) verkörpern Tiere menschliche Eigenschaften. Und ihre Geschichten dienen auf diesem Umweg der moralischen Erziehung des Menschen. In Karen Knorrs fotografierten "Fabeln" dringen die Tiere - als "das andere" - in menschliche Räume ein, in die ihnen der Zutritt sonst verwehrt wird, in barocke Schlösser, Prachtbauten des Klassizismus und Rokoko, in Museen, aber auch in Corbusier's Villa Savoye. Die Räume repräsentieren Ordnung, Strenge, Eleganz, aber auch Gesellschaftssysteme der Unterdrückung, Ausbeutungs sowie männliche Macht und Geschmack. Die Tiere dringen in dieses Bedeutungssystem ein und sie dringen auf den Unterschied zwischen Natur und Kultur. Allerdings dringen sie nicht als leibhaftige, lebende, reale Tiere in unsere kulturellen Heiligtümer, sondern nur als repräsentierte (ausgestopfte, digital erzeugte).
Knorr mischt analoge und digitale Fotografie, um die Fabeln nachzustellen. Sie fotografiert die Räume analog mit einer großformatigen Sinar-Kamera aus einer niedrigen Position, um den Blickwinkel der Tiere nachzuahmen. Die Tiere selbst werden lebend in z.B. Zoos und Resevaten und ausgestopft in Museen aufgenommen. Die großen Negative werden eingescannt und erst dann digital mit Photoshop bearbeitet. Dieser Prozess gestaltet sich langwierig:
„Some photographs now take months to make whilst others are quicker. I compare this work in its infinite detail to “phototissage,” a form of photographic stitching or weaving, rendering the pixels like threads in a tapestry.“ (Interview Photo Espana, 2008)
Karen Knorr, 1960 in Frankfurt/Main (Deutschland) geboren, wuchs in San Juan (Puerto Rico) auf und studierte in Paris und London. Ihr fotografisches Frühwerk, das die "politics of representation" thematisiert, wurde breit diskutiert, so z.B. im Kontext der Filmtheorie und der Cultural Studies. Sie gehörte in Großbritannien zu einer fotografischen Bewegung, zu der auch Martin Parr, Anna Fox, Paul Seawright, Keth Arnatt oder Eileen Perrier gehörten. Am Beginn der 1980er Jahre wurde sie durch ihre Serie "Gentleman" bekannt, einer Reportage über englische Männerclubs. Erst später lenkte sie ihre Aufmerksamkeit von den sozialen Reportagen hin zur Untersuchung der Beziehung von Natur und Kultur, hin zur Untersuchung des Verhältnisses von Fotografie zu Feminismus, Konzeptkunst und Animal Studies. Karen Knorr stellt international aus und unterrichtet seit vielen Jahren, derzeit an der University for the Creative Arts in Farnham, Surrey.
Als Beispiel für ihre frühen sozialkritischen Arbeiten sehen Sie oben zwei Fotos der Serie "Belgravia" von 1979-1981, in der auch zwei Hunde vorkommen. Knorr kombiniert in dieser Serie Schwarz-Weiß-Fotografien mit ironischen, humorvollen Texten, die den Lebensstil und das britische Klassensystem der Thatcher-Ära beleuchten. Die Bedeutung liegt in der Zusammenführung von Text und Bild zu etwas drittem, zu einer "third meaning". Ausgangspunkt zu "Belgravia" war Knorrs Wut auf die soziale Ungerechtigkeit, ungleiche Lebenschancen.
Belgravia ist ein weltoffener, sehr reicher Stadtteil in London, wo Knorrs Eltern lebten. Karen Knorr kam aus einem konservativen, wohlhaben Elternhaus und kannte die Lebensart und Haltungen der Priviligierten aus eigener Erfahrung, wenn sie sie auch nicht teilte:
"Belgravia is therefore a critique of class using the tools available to me as an ‘outsider’ on the inside." (Interview Photo Espana, 2008).
Aus deser priviligierten Position heraus wollte sie die sehr private Welt der Upper Class - abseits der Klatschspalten - zeigen, die traditionell immer eher schmeichelhaft porträtiert wurde. Gleichzeitig war es auch ein Fotografieren gegen den damaligen Trend, die Unterpriviligierten und Besitzlosen zu fotografieren. Schon zu Beginn ihres fotografischen Werks arbeitet sie in Serien, da sie ihre Absichten nicht in einem einzigen Foto aufzeigen kann:
"It is a matter of meaning, with different tensions to be found in the work. As one goes from “room” to “room” there are different stories and ideas being told. Irony and humour are difficult to produce in one photograph; several are necessary to make various points about class, power and privilege." (Interview Photo Espana, 2008)
Karen Knorr, Where Have All the Sparrows Gone (aus der Serie "Academies")
"Academies" (1994 – 2001) ist eine Serie von Farbfotos in Akademien und Museen in ganz Europa aufgenommen. Sie untersucht wie abendländische Ästhetik durch Museen und Kunstakademien verstärkt und reproduziert wird und wie die Gründungsmythen der europäischen bildenden Kunst, ihre Verbindung zu nationalen Identitäten und nationalem Erbe noch heute an den Kunstinstututionen Spuren hinterlassen, wenngleich sich die Akademien sowohl durch das Medium der Fotografie als auch durch steigenden Anteil an Studentinnen langsam verändern.
Karen Knorr, Higt Art Life after the Deluge (aus der Serie "Academies")
Karen Knorr, Looking for Arcadia (aus der Serie "Academies")
2002 hat Karen Knorr die Serie "The Venery" hergestellt - und ich bin endlich beim Thema Hund angekommen. Ich zeige sie Ihnen vollständig und kommentarlos:
Karen Knorr, Leader of the Pack
Karen Knorr, In Search of the Marquess
Karen Knorr, King of the Forest
Auf Karen Knorrs Homepage finden Sie nicht nur ihre anderen Fotoserien, sondern auch umfangreichen theoretischen Input.
alle Fotos © Karen Knorr
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