Jermolaewa, Anna

23. Februar 2017 - 10:48

Die Video- und Fotoarbeiten von Anna Jermolaewa bestechen durch eine unprätentiöse, prägnante Bildsprache. Doch nur vordergründig erscheinen die kurzen Filmstücke anspruchslos und schlicht. Auf den zweiten Blick entblößen sie verstörende Bedeutungsebenen: Die Filmsequenzen thematisieren die sozialen Beziehungsabläufe und Routinen unserer Gesellschaft, zeigen Macht- und Kontrollmechanismen. Dabei steht die Einfachheit der filmischen Darstellung im Gegensatz zur Hintergründigkeit ihrer Werke.

Anna Jermolaewa sieht sich nicht als Videokünstlerin im eigentlichen Sinne, da sie kaum mit dieser Technik experimentiert und das Videomaterial auch nicht durch digitale Nachbearbeitung oder Spezialeffekte manipuliert. Einzig durch den Einsatz des Loops, eines ihrer Markenzeichen, wird die gefilmte alltägliche Situation, das alltägliche Motiv potenziert.

Ich möchte drei Videoarbeiten vorstellen, die mit dem Motiv des Hundes arbeiten.

Untitled, Video, 1 min., 2004

Dieses Video bietet nur einen ersten Eindruck, in besserer Qualität und voller Länge finden Sie die Arbeit auf der Homepage der Künstlerin.

 

 

 

Wie meist in ihren Arbeiten wird der Zuschauer auch hier mit einem starren, das Geschehen strikt begrenzenden Bildausschnitt konfrontiert. Wir sehen batteriebetriebene Spielzeughuskys, deren Augen nacheinander rhythmisch zu blinken beginnen. Erst dieses Blinken verwandelt die Spielzeuge in etwas Außergewöhnliches. Verwandeln sich die Spielzeughunde, ergänzt durch den "belebenden" Ton aus dem Inneren, in Wesen, die bedrohen, ängstigen und nicht nur unterhalten? Kippt des Alltägliche und Belanglose ins Unheimliche? Oder zwinkern sie uns doch nur ironisch zu?

Von drei Seiten ist der Besucher von den blinkenden Huskys umgeben. Wird er Augen- und Ohrenzeuge einer quasi unaufhörlichen Besessenheit und Zwanghaftigkeit?

 

Ausstellungsansicht Galerie XL, Moskau, 2008
Ausstellungsansicht Galerie XL, Moskau, 2008

 

Untitled, Video, HD, 3.48 min., Loop, 2010/2012

Ein Schäferhund ist auf einem Gepäckförderband auf einem russischen Flughafen zu sehen. Er beschnüffelt, von einer Sicherheitsbeamtin instruiert, die Koffer und springt dann vom Fließband hinunter und aus unserm Blickfeld hinaus. Die statische Kamera ist quasi teilnahms- und emotionslos auf die Koffer und mit Plastik verschnürten Pakete gerichtet, die sich in der Kurve stauen, weiterschieben, auftürmen und herunterfallen.

Mein erster Gedanke war, dass es um die Funktionalisierung des Hundes für menschliche Zwecke geht. Der (Arbeits-)Hund hat in dieser Situation keine Entscheidungsgewalt über sein Tun, sondern seine Beziehung zum Menschen ist z.B. von Gehorsam oder Gefallen-Wollen geprägt, sodass er als Drogenhund benützt werden kann. Der öffentliche Ort einer Transitzone im Flughafen wird nicht nur durch Überwachungskameras kontrolliert, auch die Gepäckstücke unterliegen organisierter staatlicher Kontrolle. Die Kontrollgesellschaft hat einen Teil dieser Überwachung an den Hund abgegeben, der ungewollt zum Komplizen des Überwachungs-Staates wird.

Erst beim weiteren Betrachten fiel mir die Ähnlichkeit zum Video "Überlebensversuche" auf, in dem Spielzeug-Stehauffiguren sich immer schneller bewegen, bis sie vom Tisch hinunterfallen. Auch bei Untitled, Video, HD, 3.48 min., Loop, 2010/2012 lässt Anna Jermolaewa die Dingwelt sprechen, die Videoprotagonisten sind allerdings Gepäckstücke. Sind die Koffer Metaphern für das Weiterkommen, Auf-der-Strecke-Bleiben, Hinausfallen (aus der Gesellschaft, dem Arbeitsprozess etc.)? Die Tonspur bringt dumpfe verzerrte Geräusche der weitertransportierten Bündel auf dem Fließband und erzeugt ein Gefühl der Beklemmung.

 

Motherhood, Video, 33 sec., Loop, 1999

Leider habe ich zu diesem Video nur Filmstills gefunden, weshalb das Gezeigte für mich nicht eindeutig ist. Auch in den kunsttheoretischen Texten finden sich unterschiedliche Sichtweisen und Bewertungen. Ich habe vor allem diese Quellen verwendet: Dr. Ulrike Ritter: Narrationen gegen die Monumentalisierung des Bildes, Martin Prinzhorn: Der Blick vorbei aufs Ganze, Martin Pesch: Anna Jermolaewa sowie Texte auf Anna Jermolaewas Homepage.

Der Titel "Mutterschaft" lässt Bilder des Umsorgens, des zärtlichen Zuwendens zu den Welpen in uns entstehen, doch die Filmstills zeigen etwas anderes:

 

Anna Jermolaewa, Standbild aus dem Video Motherhood, 1999

Anna Jermolaewa, Standbild aus dem Video Motherhood, 1999

Anna Jermolaewa, Standbild aus dem Video Motherhood, 1999

Anna Jermolaewa, Standbild aus dem Video Motherhood, 1999
Anna Jermolaewa, Standbilder aus dem Video "Motherhood", 1999, Quelle mumok

 

Während die Welpen an den Zitzen einer Hündin saugen, gilt die Aufmerksamkeit der Hundemutter einer menschlichen Hand, die sie füttert. Die andere Hand hält den Hund an einer Hautfalte am Nacken fest. Dabei ist unklar, ob sich die Hundemutter von selbst dem Menschen zuwendet oder am Nacken gezogen wird.

Der fütternde und manipulierende Mensch, der an einem Tisch sitzt, bleibt für den Betrachter/die Betrachterin ebenso außerhalb des Bildausschnitts wie die Tischrunde, auf deren Gespräch er sich der konzentriert. Viele Arbeiten Anna Jermolaewas handeln von Manipulation. Die Künstlerin sagt selbst: "Wer oder was manipuliert, bleibt dabei fast immer außerhalb des Bildfeldes. Die Machtmechanismen, die ein Individuum heute beeinflussen oder lenken, werden immer feiner und unsichtbarer".

Alexandra Henning beschreibt das Video als "ein so eindringliches wie idiosynkratisches Beispiel für das Ungleichgewicht von Liebe und Zuneigung, Macht und Ohnmacht, Abhängigkeit und Manipulation" (vgl. Anna Jermolaewas Homepage)

Ich möchte mich dem anzuschließen: Wenn man die kleine Szene nicht nur kunsttheoretisch betrachtet, sondern auf die Körpersprache der Hündin achtet, bemerkt man, dass sie die Ohren zurücklegt, also zumindest Unbehagen ausdrückt. Die menschliche Berührung ist ihr unangenehm. Trotzdem nimmt sie das Futter an.

Die Videostills bzw. das Video zeichnen in ihrem unklaren Beziehungsgeflecht der Abhängigkeiten ein deprimierendes, hoffnungsloses Bild, das durch unser unbeteiligtes Betrachten umso dramatischer wird.

Die mit 17 Jahren aus Russland geflohene Anna Jermolaewa (geb.1970 in St.Petersburg) studierte in Wien Kunstgeschichte und anschließend bei Peter Kogler an der Akademie der bildenden Künste. Einem größeren Publikum wurde sie 1999 durch Teilnahme an der Biennale Venedig bekannt.

Homepage von Anna Jermolaewa

 

Fotografie, Video